Wahrsagen
Als hätte er Wurzeln geschlagen stand der Junge auf dem dunklen Kopfsteinpflaster in einiger Entfernung von dem kleinen Zelt, dass schwarz und geheimnisvoll in Mitten der braunen und weißen Leinen der Marktstände beinahe wirkte, wie ein Tor zu einer anderen Welt. Kein drängelnder Marktschreier, kein Karren, der vorüber gezogen wurde konnte seinen Blick beirren. Er sah durch sie alle hindurch nur auf den düsteren Kegel von Samt.
Erst der Ruf seiner Mutter ließ ihn aufschrecken.
„Fabian, nun komm schon!“
Sie seufzte schwer unter den zwei Weidenkörben mit den Einkäufen und ihr jüngster Sohn eilte schnell und entschuldigenden Blickes zur Hilfe.
Am Abend saß er im Waschzuber in der Küche und ließ sich von der Magd willig mit heißem Wasser übergießen und das goldblonde Haar ausspülen, dessen wundervolle Farbe unter dem Staub eines Tages allzu schnell verborgen war.
„Mutter? Was war das heut für ein Zelt auf dem Markt?“
Die Frau sah verwundert auf seinen Hinterkopf, lachte dann rausanft:
„Es gab doch so viele Zelte, Junge. Welches genau meinst du?“
Fabian sah nachdenklich gerade aus auf den gedeckten Tisch, schüttelte sich nach einer Weile leicht und suchte, es ihr zu erklären.
„Ich meine dieses bestimmte Zelt. Es sah aus, als wäre sein Stoff vom Tuch des Nachthimmels.“
Sofort hielt die Hausherrin in ihren Küchenarbeiten inne, lies die halb geschälte Kartoffel in den Trog mit den Resten für die Schweine fallen. Als sie dort aufschlug, suchte der Sohn verwirrt ihren Blick, denn sie war wie erstarrt. Ihre Miene verfinsterte sich.
„Du wirst dich nicht mehr auch nur in die Nähe dieses Zeltes begeben.“
„Aber...“
„Nein, Junge.“
Ihre grauen Augen blickten ihn starr an, dann verließ sie mit wenigen Schritten dich Küche, gab noch der Kleinmagd die Anweisung, ihre Arbeit fortzuführen.
So stand das Mädchen auf, nachdem Fabian in ein Leinen gehüllt im Zimmer stand und suchte im Trog nach der heilen Kartoffel.
Der Bauernsohn sah ihr dabei zu, sein Blick war verständnislos und sie spürte, er würde nun sie fragen.
„Ina, warum...?“
Ina schluckte, viertelte die Kartoffel, begann die nächste zu schälen.
„Du hast das Zelt der Wahrsagerin gesehen.“
Der Jüngere legte den Kopf schief, das Gesicht unverändert, doch er hatte erkannt, dass er bei ihr mehr der Antwort bekommen würde.
„Wer ist sie?“
Die Kleinmagd lachte leise, schüttelte leicht den Kopf, wobei ein paar ihrer schwarzen Locken unter dem Kopftuch hervor rutschten, die zweite Kartoffel landete im Topf.
„Eine verwirrte, alte und vor allem einsame Frau. Sie glaubt, die Geister sprächen zu ihr und verrieten ihr Sachen, die kein anderer weiß.“
„Aber das ist doch wunderbar!“
Nun lachte Ina wirklich, über ihre Lippen schlich ein Grinsen, als sie den Jungen ansah.
„Nun, sie beutet die Menschen damit aus. Sie erzählt ihnen, dass ihre Felder brach liegen werden, dass ein furchtbarer Virus die Familie einholt oder dass sie in den nächsten Stunden grauenhaft und schmerzvoll sterben. Die Leute bezahlen viel dafür, um so etwas zu hören.“
Sie lachte noch einmal ironisch und wandte sich voll und ganz ihrer Arbeit zu.
„Geh jetzt besser schlafen.“
Fabian sah sie beharrlich weiter an, folgte erst ihrer Anweisung, als sie ihm einen mahnenden Blick schenkte.
In seinem Tiefsten aber war der Wissensdurst, was dieses düstere Zelt betraf, noch lange nicht gestillt.
Er sann noch eine lange Nacht darüber nach, war an dem Tag nach diesem Gespräch nahezu versunken. Er reagierte kaum auf Fragen, Bitten oder Befehle, schien gar nicht so recht anwesend zu sein. Weil seine Mutter aber um die Hilfskraft auf dem Hof bangte und sie nicht verlieren wollte, begann sie bald, ihn anzuschreien, sperrte den wehrlos nachdenklichen Jungen in seine Kammer, wo er saß und grübelte, bis er am Abend eine dünne Suppe bekam.
Auch am nächsten Tag ließ er sich einschließen, aß das nötigste, schlief nie und dachte viel, die braunen Augen wurden stumpf, der Glanz in ihnen zog sich zurück. Und als er am dritten Tag ganz aufhörte zu sprechen wurde seine Mutter weich, fiel plötzlich vor dem Kleineren auf die Knie, flehte, dass er ihr vergeben mochte und wieder mit ihr rede.
„Bitte mein Kind... Hast du nicht einen Wunsch, Fabian, etwas, dass dich glücklich machen würde?“
Da erwachten die Kinderaugen und er sah sie an.
Mit fester Stimme antwortete er so gleich:
„Nimm mich noch einmal mit zum Markt, Mutter.“
Überschwänglich vor Freude, dass er mit ihr sprach und ihr lebendig in die Augen blickte, willigte die Frau sofort ein, fiel dem blonden Jungen um den Hals und half ihm für diesen Tag, seine restliche Arbeit zu verrichten.
Am nächsten Morgen zogen die beiden durch die Stadt, blieben hier und da stehen und immer wieder hatte die Mutter Dinge gefunden, die sie brauchen könnte oder Fabian gern schenken wollte, doch jedes Mal lehnte der kopfschüttelnd ab.
An einem Stand mit edlen Tuchen verweilte sie lang und wollte das schönste aussuchen, ihren Sohn zu Hilfe holen, doch als sie ihn erblickte, verschwanden der blonde Schopf und sein Mantelsaum in den nachtschwarzen Zeltvorhänge der Wahrsagerin, welche sie so sehr hasste.
Der Junge aber sah sich eher furchtlos dahinter um.
Ihm schlug so gleich die Wärme einer Fackel entgegen, welche das Zelt statt der Sonne erhellte. An den Wänden hingen Kräuterbündel, schwere Dämpfe zogen sich wie Fäden in seine Lungen hinein, umhüllten ihn ebenso stickig, wie das dämmrige Licht und so bemerkte er erst einige Augenblicke später den kleinen runden Tisch in der Mitte des Zeltes.
Auf einem Stuhl dahinter saß eine kleine gekrümmte Gestalt, die in einen Umhang gewickelt war, der von gleichen Stoff schien, wie die Zeltplane selbst. Unter den weiten Ärmelsäumen mischte ein Paar runzliger alter Hände einen Stapel sonderbarer Karten und legte sie in scheinbar zielsicherer Anordnung auf der Eichenplatte aus.
„Komm her, Fabian!“ raunte die kratzige Reibeisenstimme, als die Frau sich ihre Kapuze vom Kopf in den Nacken schob.
Kurz schreckte der Junge zurück vor ihrem Antlitz, denn ihr Gesicht war von Falten so gezeichnet wie ein hundertjähriger Baum und darum herum rankte sich wie eine Schlingpflanze üppiges weißes Haar.
Ihre Augen waren klar und grau wie Wolken an Sturmtagen und sahen ihn an, als kannte sie ihn seit Jahren und habe nur auf ihn gewartet.
Fabian besann sich jedoch, kam langsam näher.
„Woher weißt du...?“
Doch die Alte hob die Hand, murmelte nur:
„Man hört Dinge, Fabian, man hört Dinge...“
Der Bauernsohn fing nicht an noch näher zu fragen, stand nun genau vor dem Tisch, der auf den zweiten Blick etwas klapprig wirkte, sah auf die niedergelegten Karten.
„Du... also ihr habt mir meine Zukunft gelegt?“
Die Seherin lachte leise, doch so schrill wie eine alte Krähe und nickte.
„Nun, sie schien dich ja zu interessieren, nicht.“
Es schien eher eine Feststellung als eine Frage zu sein und ihre knochigen Finger drehten langsam Karte für Karte um. Verwundert und zugleich wie magisch angezogen beugte der Wissbegierige sich ein wenig über die Bilder und Zeichen, die ihm rätselhaft waren. Als sie fertig war, setzte die alte Frau sich etwas auf, streckte einen Arm aus.
„Gut. Dann zeig mir deine Hand.“
Kurz musterte Fabian seine eigene, dreckige Handinnenfläche mit selbstkritischem Blick, legte sie dann in die greifende der Alten. Er konnte nichts in ihren grauen Augen sehen, doch ihre Finger eilten zwischen Linien und Adern, Schwielen und Sehnen hin und her, dabei schien sie mit den Karten unter der Hand zu vergleichen.
„...Oh...“
Der blonde Junge schluckte, spürte sofort die Angst, wie ihre kalten Finger seine Magenwände hinauf fuhren. Sie klang beunruhigt, doch sie wagte nicht zu sprechen, so dass Fabian ungeduldig wurde:
„Was??“
Sein Blick flog über die Bilder, auf welche die Seherin zeigte.
„Rabe, schwarzer Umhang, Feuer, Blitz. Das sieht nicht aus, als wärst du glücklich und auch nicht als könntest du das jemals ändern...“
Sie fuhr dann verstummt mit dem Fingerknöchel über eine feine, kurze Hautfalte, dabei sah sie ihn aus matten Augen an.
„Die Linie deines Lebens ist plötzlich unterbrochen. Du wirst bald Sterben, mein Sohn.“
Fabian glaubte nicht, wollte nicht glauben, wollte geträumt haben und jetzt endlich aufwachen. Doch als er die Augen schloss, kurz blinzelte und sie wieder öffnete, war noch immer alles unverändert.
Düster, schwer, bedrohlich...
Weiße Punkte begannen in seinem Blick zu tanzen, seine Sicht verschwamm.
„Nein...“
Er taumelte zurück und eilte mit wirren, unsicheren Schritten aus dem Zelt, gegen den Menschenstrom hinunter vom Marktplatz. Die Angst saß tief in seinem Herzen, dass ihm so heftig wie nie gegen die Brust hämmerte, gerade so, als wollte es aus seinem Körper ausbrechen. Er bekam Atemnot, achtete nicht auf den Weg, stolperte und fiel direkt in die suchenden Arme seiner Mutter, die erleichtert seufzte, als sie ihn festhalten konnte.
„Da bist du ja.“
Er schluchzte auf, sah sie verschwommen an.
„Mutter ich werde... ich... ich werde sterben!“
Und da Begriff die Frau die Panik ihres Sohnes. Nur kurz sah sie noch zu dem
dunklen Zelt, dessen Stoff tückisch hinter dem weißen Leinen eines Gemüsestandes hervor blitzte. Dann zerrte sie den Jungen energisch mit sich.
Ihr Blick war fest, doch voller Sorge.
„Hab keine Angst, du hast dich verrückt machen lassen... aber du wirst schon wieder normal werden...das wird schon...“
Immer wieder murmelte sie zu sich solche losen Hoffnungen, sie schien sich selbst ermutigen zu wollen. Fabian selbst hörte sie nicht, spürte nur wie ihn die große, packende raue Hand zerrte, bekam vor dem festen Griff und der eigenen Hilflosigkeit wieder Angst. Das war nicht seine Mutter, dieses brutale Wesen, dass ihn eingefangen hatte. Es trug einen schwarzen Umhang und feuerrotes, teuflisches Haar, was sich um seinen Rücken rankte.
Schreiend wand er sich in ihrem Griff, lehnte sich gegen ihre Kraft.
„WEIB! Pass doch auf, um Gottes Willen!“
Die hektische Frau warf sich zur Seite, das Kind stob davon, bevor die Kutsche es überrollen konnte, taumelte wieder kurz und stürzte dann die Stufen vom Wall hinunter in die Stadt zurück.
Die versteinerte Mutter hörte seine Knochen brechen, sein Inneres zerspringen und wusste, er würde bald sterben.
„Sie hat es tatsächlich gewusst...“