vom Januar 2o1o
Das Märchen von Tim Traumfänger und dem Prinz der Dunkelheit
Es war einmal vor einer kleinen Weile als Tim in der großen Stadt Berlin lebte.
Tim war ein Junge von 7 Jahren und kam aus einem weit entfernten, fremden Land, in dem man eine fremde Sprache sprach und fremdes Essen aß. Aber auch sonst war Tim kein ganz normaler Junge.
Mit vollem Namen hieß er nämlich Tim Traumfänger und seine Familie bestand ausschließlich aus Traumfängern. Das waren Zauberer, die des Nachts mit ihren nachtigallengefiederten Schuhen über die Dächer ihrer Heimat schwebten und die bösen Träume aller Kinder einfingen.
Jeder der Traumfänger besaß dafür einen Käscher. Das waren an langen Weidenstäben aufgespannte, kreisrunde Netze, deren Garn die friedfertige Flussspinne gesponnen hatte und in die Mondsteine und Sternenstaub und nicht zuletzt auch Nachtigallenfedern eingewoben waren.
Schon Tims Papa und auch sein Opa, so wie sein Uropa, der Ururopa und der Urururopa (Traumfänger wurden sehr alt) hatten Träume in diesem fernen Heimatland gefangen. Weiter wusste er es zwar nicht, aber er war ziemlich sicher, dass wirklich seine ganze Familie schon immer und ewig dafür da war, den Kindern einen guten Schlaf und süße Träume zu schenken.
Er selbst hatte schon mit zwei Jahren die ersten Träume für Neugeborene gezaubert und große Freude daran gefunden. Sein Papa hatte mit ihm seinen eigenen Weidenstab gewählt, hatte die Nachtigallen um Federn für Schuhe und Netz gebeten und ihm an seinem dritten Geburtstag einen eigenen Mondstein geschenkt. Gemeinsam hatten sie dann die Flussspinne besucht, damit sie Tim das Garn für seinen Traumkäscher spann.
„So einen kleinen Firlefanz willst du schon so etwas wichtiges wie Träume zaubern lassen?“, hatte sie entsetzt gefragt und mit ihren silbrig glitzernden Zangen geklackt.
Da hatte Tims Papa ihm den eigenen Traumkäscher gereicht, ihm vertraulich zugenickt und erwidert:
„Sieh selbst was mein talentierter Sohn schon kann.“
Tim brauchte tatsächlich nur zweimal den Käscher zu schwingen und schon folgte seiner Handbewegung eine Landschaft mit grünen Wiesen und blauem Himmel und spielenden Zicklein, ein schöner Traum, mitten in der Luft.
Die Spinne war von den großen Fortschritten des kleinen Traumfängers so beeindruckt, dass sie ihm gern ihr Zaubergarn schenkte. Sobald dann Tims Mama eine Hand voll Sternenstaub darüber gegeben hatte, konnte der dreijährige Junge mit seinem Papa nachts über die Dächer schweben und den Kindern schöne Träume von grünen Wiesen und blauem Himmel und spielenden Zicklein schenken.
Eines Tages aber geschah etwas, das selbst für einen jungen Traumfänger noch ungewöhnlich war:
Gerade war Tim mit seinem Papa von der Traumjagd zurückgekehrt und hatte sich im Morgengrauen müde ins Bett gelegt. Denn wer in der Nacht wach war, er musste natürlich wenigstens am Tag eine Mütze Schlaf bekommen. Seine Mutter hatte die Fenster des Waldhäuschens in dem sie wohnten abgedunkelt. (Weit weg von der Stadt wunderte sich kein Nachbar über den eigenartigen Tagesrhythmus der Traumfänger. Denn im Unterholz und in den Bäumen lebten genügend Tiere, die ebenfalls nur bei Dunkelheit aus ihren Löchern und Höhlen kamen.)
Im stockfinsteren Dachzimmer wurden Tim die Augen nur noch schwerer und er streifte sich das nachtigallengefiederte Gewand ab und warf seinen Traumkäscher ein wenig achtlos beiseite...
„AUA!“, kreischte es da plötzlich laut auf und der kleine Zauberer hechtete erschrocken zur Seite und auf sein Bett. Wer hatte da bloß gesprochen?
„H-hallo?“, fragte Tim vorsichtig in den Raum hinein.
Da erfüllte ein himmelblaues Licht sanft das Zimmer und Tim bemerkte, dass der Mondstein in seinem Käscher leuchtete. An und für sich war das nichts ungewöhnliches, denn wenn er einen Traum fing, dann glitzerte der magische Stein selbstverständlich immer so geheimnisvoll.
Doch im Moment fing er ja niemandes Traum.
Da begann der Stein, mit einer fremden Mädchenstimme zu sprechen:
„Tim, du warst aber gerade sehr unsanft zu mir.“
Die Stimme klang noch heller als Kirchenglocken und obgleich Tim sie noch nie gehört hatte, war sie ihm seltsam bekannt.
„Traumkäscher? Bist du das?“, fragte er verwundert und rutschte langsam näher zum Bettrand und zu seinem Käscher, den er davor auf dem Bettvorleger hatte fallen lassen.
„Ja natürlich, Tim.“, kicherte die helle Stimme und der Stein glitzerte.
„Wer soll ich auch sonst sein?“
„Aber seit wann kannst du sprechen, Traumkäscher?“
Darauf schwieg der Käscher kurz. Er schien zu überlegen.
„Na ja, eigentlich kann ich es schon immer, genau wie jeder andere Traumkäscher.“
Das verwirrte Tim noch viel mehr. Denn weder sein Papa, noch sein Opa, sein Uropa, sein Ururopa oder Urururopa hatte je davon erzählt, dass sein Traumkäscher sich mit ihm unterhalten hatte.
„Aber wenn ihr das alle könnt, warum macht ihr es nie?“
Der Traumkäscher räusperte sich und Tim bildete sich sogar ein, dass der Stein kurz eine leicht rosige Färbung annahm. Das schien ihm unangenehm zu sein.
„Weil wir… ächem… es eigentlich nicht dürfen?“
„Wer sagt das?“, fragte Tim sogleich weiter. Der Käscher überging das.
„Das erkläre ich dir ein anderes Mal, in Ordnung? So viel Zeit ist jetzt nicht. Ich spreche nämlich ausnahmsweise mit dir, weil wir beide einen schweren Auftrag haben.“
„Aber wann?... Was für einen Auftrag?... Und von wem???“
Tim war ein neugieriger, kluger Junge, in dem nun einmal schon früh der Forscher erwacht war, was es dem Traumkäscher nicht sehr leicht machte, sprach er doch überhaupt fast nie und war schon gar nicht daran gewöhnt, unterbrochen zu werden.
„Nun ist’s aber gut!“, sagte die helle Stimme einschreitend, „Du wüsstest schon mehr, wenn ich ausreden dürfte, kleiner Herr Traumfänger!“
Tim lächelte verlegen und strich entschuldigend über die Nachtigallenfederkiele am Kranz des Käschers. Der Stein wurde wieder kurz blassrosa davon und fuhr fort:
„Vor kurzem hat der Wind nämlich einige Pusteblumensamen vorbei getragen. Von weit, weit her.“
Der Junge nickte sachte. Er kannte diese kleinen Fallschirmspringersamen, die im Spätsommer aus dem Löwenzahn hervor krochen und sich auf große Reisen machten.
„Und die haben mir geflüstert, dass es in der Ferne ein Land gibt, in dem nicht eine einzige Traumfängersippe lebt! Stell dir vor! Keine einzige!“
„Keine einzige??“, fragte Tim schockiert nach. Das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Ein ganzes Land ohne Traumfänger, die den Kindern schöne Träume schenkten?
Bei dem Gedanken, wie viele Alpträume und unnötige böse Gedanken in diesem Land durch die Luft schwirrten, ungefangen und unverwandelt, wurde dem kleinen Traumfänger ganz schwindelig und im Nu war sein Tatendrang geweckt:
„Das ist ja furchtbar! Ich muss gleich meinem Papa bescheid sagen! Das klingt nach Arbeit für uns!!“, und schon war er fast aus dem Zimmer gerannt.
„STOPP! TIM!“, quiekte die Mädchenstimme aus dem Käscher erschrocken und sein Besitzer hielt inne, einen fragenden Blick über seine Schulter werfend.
„Du darfst das niemandem sagen, denn du allein wirst diese Aufgabe bewältigen müssen.“
„Ich allein??“, Tim lachte irritiert, in der festen Annahme, der Käscher machte einen Scherz, „Aber ich bin nur ein einzelner kleiner Traumfänger. Wie soll ich all diese Träume gefangen bekommen?“
„Das ist es ja. In diesem Land leben Traumfänger, ich bin mir ganz sicher.“
„Aber du sagtest doch-!“ – „SCHT!“, zischte der Traumkäscher verärgert.
„Oh du Bursche, wenn ich dir nur den Schnabel zuhalten könnte. Die Wahrheit ist, dass diese Traumfängerfamilien gefangen gehalten werden, vom Prinzen der Dunkelheit.“
„Vom Prinzen der Dunkelheit?“, fragte Tim wieder verwundert nach.
„Ja. Er hält sie gefangen in seinem Schattenpalast in der Hauptstadt des Landes. Und nur du kannst sie befreien. Denn alle erwachsenen Traumfänger haben doch selbst jede Nacht zu tun. Und du bist der einzige kindliche Traumfänger weit und breit.“
„Der einzige kindliche Trau-?“ – „JADOCH!“, stöhnte der Käscher halb aufgeregt halb genervt, dann räusperte er sich erneut:
„Ächem… Also. Du musst die Mission allein mit mir erfüllen. Deine Eltern schlafen jetzt und diese Gelegenheit müssen wir ausnutzen. Also zieh dich wieder an, besorge dir schnell von unten ein wenig zu essen, und hinterlasse deiner Mama eine kurze Nachricht. Wir müssen heute noch fort.“
Zwar war Tim von all den Informationen noch ganz konfus, doch er nahm an, seinem Traumkäscher vertrauen zu können. Also huschte er in nachtigallengefiederten Schuhen und Kleidern in die Küche des Hauses, packte sich einen Kanten Brot unter den Umhang, schrieb seiner Mama im Dunkeln blind eine Notiz und schloss seine Zimmertür zu. Sein kleines Traumfängerherz pochte schnell als er (diesmal sehr vorsichtig) seinen Käscher wieder in die Hand nahm.
Ozeanblau glühte der Stein nun wieder auf und lobte ihn:
„Sehr gut, du bist schnell und sehr leise. Du musst dich heute zum ersten Mal bei Tage bewegen. Darum musst du noch schneller und noch leiser sein, denn du weißt, dass die Menschen euch nicht entdecken dürfen.“
Tim nickte wissend. Das hatte sein Papa ihm schon früh immer wieder eingebläut. Sie waren ein streng gehütetes Geheimnis der Mutter Natur. Entschlossen, ja ruckartig riss der kleine Traumfänger die Vorhänge bei Seite und erschrak erst.
Er hatte das blendende Licht der Sonne lange nicht gesehen. Zunächst konnte er zwar kaum etwas sehen, nach einigem Blinzeln und Augenreiben aber, sah er den Wald endlich einmal wieder bei Tageslicht.
Da dachte Tim Traumfänger sich, dass dieser Auftrag ja gar nicht so schwer sein konnte, machte, den Käscher fest in der Hand, einen großen Sprung, und begann, wie ein Vogel auf Baumwipfeln zu hüpfen und wischen ihnen her zu schweben.
„Käscher?“, fragte er dabei, bevor er die erste Stadt erreichte und ihn jemand hören konnte, „Es war die Mutter Natur nicht? Von ihr kommt die Aufgabe.“
Der Käscher aber schwieg und blinkte leicht rosa…
Die Tage der Reise zogen dahin. Tim Traumfänger sprang zwischen Bäumen und Felsen umher, immer in Richtung der Küste, denn um das ferne Land Deutschland zu erreichen, musste er eine Seestraße überqueren. Seit seinem Aufbruch stand ihm die Mutter Natur jedoch regelmäßig zur Seite, ließ zu seinen Füßen Früchte sprießen, die Bienenstöcke vor süßem Honig tropfen und die Euter der Kühe und Ziegen in seiner Nähe vor nahrhafter, warmer Milch. So konnte er sich stets Mahlzeiten nehmen und in der Obhut von Wäldern, Sträuchern, kleinen Höhlen und sogar einigen Tierställen, kleine Pausen einlegen. Schließlich war Tim Traumfänger noch nie weit gereist, vor allem nicht allein. Und so mutig und stark und schnell er auch war, zählte er doch am Ende nur sieben Jahre.
So war es kein Wunder, dass er schließlich eines Mitternachts am Strand vor der Meerstraße stand und nicht wusste wohin. Über das Wasser laufen konnte er kaum, aber bis zum Ufer von Deutschland würde er es mit seinem Geschwebe auch nicht schaffen.
„Und was nun?“, fragte er den Käscher verzweifelt. Der hatte schon eine Weile nicht mehr mit ihm gesprochen, weil Tim sehr gut allein zu Recht gekommen war. Jetzt aber brauchte er dringend Hilfe.
„Nun sag doch, wie ich über das Wasser kommen soll???“
Doch der Traumkäscher schwieg weiter und lies Tim selbst überlegen.
Einen Menschen konnte er nicht fragen.
So spazierte er eine Weile eher ziellos am Ufer entlang, bis seine Füße völlig müde waren. Traurig und erschöpft lies Tim Traumfänger sich auf die dicke Hauptwurzel einer Trauerweide sinken, die am Wasser stand und ihre Ästchen in der Flut baumeln lies.
„Uhu…“
Ein leises Heulen erklang. Zunächst glaubte der kleine Traumfänger, es wäre der Wind, der durch die Arme der Weide strich.
„Schuhu…“
Verwirrt blickte Tim sich nun nach der Quelle der immer lauter werdenden Rufe um. Doch er sah keine Eule und keinen Uhu auf der Jagd oder der Heimreise.
Stattdessen sah er plötzlich eine nur zu bekannte Gestalt vom Mond aus auf sich zu fliegen.
Es war eine sehr große, braunrote Nachtigall, die in der Luft Kreise um ihn zog, um schließlich vertrauensvoll (denn Nachtigallen und Traumfänger gehörten schon lange zu einer Familie) auf der Spitze des Traumkäschers zu landen.
„Schuhu!“
„Hallo Nachtigall. Was machst du denn für komische Laute?“
„Hallo kleiner Traumfänger… schuhu … Oh ich habe vorhin einen Wurm verschluckt und ich glaube, der war gar nicht gut. Nun kann ich nicht mehr singen.“, jammerte die Nachtigall. Tim sah, dass sie vor Schmerz schon Tränen in den großen, hellbraunen Äuglein hatte und war bestürzt:
„Sie arme Frau Nachtigall. Kann ich ihnen da nicht vielleicht helfen?“
„Du mir helfen? Ach kleiner Traumfänger, du bist doch ein Kind, kein Tierdoktor…“
Doch weiter sprechen konnte der kranke Vogel nicht, denn Tim begann ruckartig, seinen Traumkäscher heftig zu rütteln und zu schütteln, so dass die Nachtigall Mühen hatte, sich fest zu halten!
„He da!“, kreischte sie auf, „SCHUHU! Was machst DUHU? Böser JUHUNGE!“
Mit einem lauten Quietscher rutschte die Nachtigall da schon vom schwankenden Sitzplatz und konnte sich gerade so noch kopfüber am Rahmen des Traumkäschers festkrallen. Dennoch platschte sie mit dem Bauch kräftig gegen die Weidenstange und begann ganz fürchterlich zu husten.
Tim Traumfänger aber war ja kein dummer kleiner Zauberer, und klopfte der Nachtigall abwartend auf den gefiederten Rücken, bis sie kräftig würgte und mit einem lauten „SCHUHHUHUHU!“ einen silbrigen, kleinen Stab heraus spuckte.
„Dachte ich mir doch, dass das kein normaler Wurm war!“, triumphierte Tim sehr erfreut und hob das unverdauliche Abendessen der Nachtigall auf, die sich wieder mit dem Kopf nach oben auf den Käscher setzte und den Fund verwirrt betrachtete:
„Oh, tatsächlich nicht. Nun, es war ja auch schon dunkel, weißt du…“
„Dabei glitzert es so hübsch.“
Tim hob es auf und drehte es ein wenig hin und her. Er erkannte eine kleine Flöte, gerade groß genug, dass sie sehr gut in seiner Hand mit den schmalen Fingern lag.
„Du hast eine Flöte verschluckt. Kein Wunder, dass du nicht mehr singen konntest!“, lachte der kleine Traumfänger und blies in das kleine Instrument hinein.
Zwar arbeitete seine ganze Familiendynastie, sein Vater, sein Opa, sein Uropa und so weiter schon immer in leisester Stille. Dennoch hatte aber jeder Traumfänger ein Gefühl für Töne und Musik. So dauerte es nicht lange, die Nachtigall räusperte sich und schon bald saßen die beiden musizierend und singend am Flussufer.
Solange, bis die Sonne schon aufging.
Da blinkte im ersten Sonnenlicht der Mondstein in Tims Traumkäscher auf, und die helle Stimme erklang wieder. Auch der Frau Nachtigall war sie so vertraut, dass sie blieb und erstaunt horchte.
„Tim, du darfst unsere Aufgabe nicht vergessen!!“
Da erschrak Tim beschämt:
„Oh nein, du hast ja so Recht. Es tut mir Leid Frau Nachtigall, aber ich muss wirklich weiter!“
So sprang der Zaubererjunge auf und sah erneut über das große Wasser.
„Von was für einer Aufgabe redet denn dein Käscher?“, zwitscherte sie verwundert und ein wenig traurig. Denn das singen zur Musik des Traumfängers hatte ihr sehr große Freude bereitet.
„Ich muss die Traumfänger dieses fernen Landes retten. Es heißt Deutschland, und liegt dort hinter dem Meer.“, erzählte er stolz, denn bisher hatte er bei niemandem damit prahlen können.
„Allerdings… weiß ich gar nicht, wie ich bis dahin kommen soll.“
Die Frau Nachtigall pfiff beeindruckt, dann plusterte sie nachdenklich die Nackenfedern, bis ihr der rettende Einfall kam.
„Ich verstehe. Na, ich glaube, dir kann geholfen werden!“
Flux war das Vöglein hoch oben in der großen, alten Trauerweide verschwunden und eine Weile glaubte Tim, dass sie auch nicht wieder kommen würde…
Doch plötzlich viel ihm ein großes, beeindruckend stabiles Wirrwarr aus Zweigen, Blättern und Geäst in die Arme.
„Das ist das große Nest meiner Familie vom letzten Winter. Und jetzt kann es dein Boot sein!!“
„Mein Boot?“
„Ja! Darauf wirst du auf dem Wasser stehen können, und der Wind und wir, wir ziehen dich bis an die Ufer von Deutschland! Was denkst du?“, zwitscherte die Nachtigall erregt und mit ihr ihre ganze Sippe von allen Ästen der Weide. Denn sie hatte ihre Familie aufgeweckt, ihnen die Geschichte von der heldenhaften Rettung ihrer schönen Singstimme erzählt und sie so schnell auf ihre Seite gebracht.
„Wenn das funktioniert, dann seid ihr meine Rettung!“, jubelte Tim. Sie taten wie die Nachtigall es vorgeschlagen hatten und so segelte Tim Traumfänger über das Meer, im Schutze der Mutter Natur und gezogen an alten Zweigen der Trauerweide von einer Schar Singvögel.
Die Geschichte mag kaum zu glauben erscheinen, doch Traumfänger sind nun einmal sehr leichte Burschen und die See und der Wind sind starke Helfer.
So dauerte es nur einen Tag und eine Nacht, bis Tim mit seinen Freunden einen deutschen Strand erreichte.
„Habt Dank liebe Nachtigallen! Ihr wart sehr stark! Und singen könnt ihr!“, lachte der kleine Traumfänger, wenn auch erleichtert, endlich wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu haben.
„Haben wir gern getan!“, zwitscherten sie in einem Chor.
„Wir werden hier in der Gegend auf dich warten, Tim! Und wenn du uns brauchst, dann blas’ nur kräftig in die Flöte hinein, dann sind wir dir schnell zur Seite!“
Zunächst aber hatten die Nachtigallen großen Hunger und flogen in ein nahe gelegenes Wäldchen.
Tim wollte seine Pflichten aber nicht weiter vernachlässigen, umschloss die Flöte in seiner Manteltasche fest und folgte auf fliegenden Solen dem Pfad, den der leuchtende Mondstein ihm voraus wies…
Deutschland, so stellte Tim bald fest, war ein wirklich fremdes Land. Vieles roch hier anders. Das Wetter war oft schlechter (dagegen konnte auch Mutter Natur hier nichts ausrichten), die Wälder waren kleiner und die Städte groß und grau.
Nun stand er hier, in der größten und grauesten aller Städte.
Berlin.
Tim Traumfänger, 7 Jahre alt, allein, aus einem völlig fremden Land.
Es war wieder einmal mitten in der Nacht, doch in diesem Deutschland musste er sich trotzdem schützen. Denn grelle Lichter und viele unruhige, schlaflose Leute brachten ihn in die große Gefahr, erkannt zu werden. Nachdem er in einem großen Stadtpark einige essbare Beeren gefunden hatte, saß er nun gesättigt auf einem Baum und strich nachdenklich über seinen getreuen Traumkäscher, als er plötzlich wieder zu sprechen begann:
„Das hast du sehr gut gemacht, Tim. Du bist nicht weit entfernt vom Prinz der Dunkelheit.“, flüsterte sie, dass Tim sie kaum verstehen konnte.
„Du musst lauter sprechen, lieber Traumkäscher. Ich verstehe dich sonst doch nicht.“
„Das kann ich nicht. Meine Stimme ist schwach, weil der Prinz der Dunkelheit hier herrscht. Er lebt in dem großen Turm auf der Mitte des großen Platzes, den so viele dunkle Wolken umgeben… oben in der Kuppel, da hält er sicher die Traumfänger gefangen. Geh schnell dort hin!“
Besorgt streichelte Tim über den Mondstein und nickte heftig.
„Ja, natürlich! Ich bin schon auf dem Weg, ruh dich nur aus! Ich trage dich ja.“
Tim sprang und rannte so schnell und so leise er nur konnte. Der Turm in Berlin war tatsächlich nicht zu übersehen, denn obwohl die Stadt viele hohe Häuser hatte, war nichts so hoch wie der Sitz des Prinzen der Dunkelheit.
Der war so hoch, dass die Kuppel, von der sein Traumkäscher gesprochen hatte, in Wolkenbergen verborgen war.
Der kleine Traumfänger stand auf dem flachen Dach eines großen Hotels, von wo aus er bequem hätte hinüber schweben können. Doch an der glatten, kalten Wand des Turms konnte er sich unmöglich fest halten.
Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte.
Auf dem großen Platz waren zu viele Menschen, die ihn entdecken konnten und der nächste Einstieg waren nur die Fenster im obersten Stock des Turmes, in der Kuppel. Sollte er es riskieren, von den Leuten erkannt zu werden?
Nein!
Sein Papa hatte ihm eingebläut, dass das niemals geschehen durfte.
Verzweifelt, zwischen seiner Aufgabe und seiner Erziehung hin und her gerissen, vergrub er die vom Wind ganz kalten Hände in den Taschen seines gefiederten Mantels.
Da fiel ihm die kleine Flöte in die Hände, und Hoffnung keimte in ihm auf.
Er hob sich das Instrument vors Gesicht, holte tief Luft und blies kräftig hinein.
Ein lauter, hoher Ton pfiff über die Dächer von Berlin und gerade als Tim keine Luft mehr hatte, da hörte er den Gesang der Nachtigallen.
Die ganze Familie war seinem Ruf gefolgt und schwebte kreisend um ihn her. Aus dem Reigen löste sich da das gewissen Fräulein Nachtigall, das sich dieses Mal auf seine Schulter setzte.
„Da sind wir Tim, du hast gerufen?“
„Ja Freunde!“, sagte er, noch etwas schwer atmend, „Ich muss dort hoch, über die Wolken, um in den Turm des Prinzen zu gelangen. Könnt ihr mir da helfen?“
Einen Moment schwiegen die Vögel und setzten sich um ihn her.
Dann zwitscherten sie noch lauter und fröhlicher los und tapsten um ihn herum.
Fräulein Nachtigall kicherte hell und nickte.
„Ja natürlich! Du musst nur losschweben, und wir helfen dir, in die höchsten Lüfte zu kommen. Wenn du dann immer gerade aus fliegst, dann zielen wir dich genau auf das große offene Fenster an der Spitze ab, sodass du direkt in die Kuppel gelangst!“
Ein weiteres Mal war Gesagtes bald Getanes. Tim nahm all seinen Fliegermut zusammen, breitete die die Krempe seines gefiederten Umhangs weit aus, spreizte die Zehen in den gefiederten Schuhen und sprang vom Dach des Hotels. Eine starke Böe fing ihn auf und ließ ihn über den großen Platz gleiten.
Einem Fliegerkommando gleich zogen ihm die Nachtigallen nach, ergriffen ihn mit ihren zahlreichen Krallenpaaren an Saum und Rockzipfel und zogen ihn weit hoch.
Auch für die kleinen Vögel war das kein leichter Balanceakt. Sie mussten gleichzeitig ziehen, um von einem Windstrom in den nächsten zu gelangen. Da Tim sich nicht traute, nach unten zu schauen, griff er schnell erneut nach seiner Flöte und gab ihnen mit den nachtigallengleichen Tönen einen Takt vor.
So flogen sie ihn problemlos bis auf wenige Meter Luftlinie vor das Fenster im Turm.
„Bist du bereit Tim???“, fiepte Frau Nachtigall, „Eins… zwei… drei!!!!“
Und die Nachtigallen schleuderten den kleinen Traumfänger in Richtung Turm. Mit einem großen Platsch landete er einige Zentimeter zu weit links, hangelte sich mit klammen Armen und Beinen aber schnell ins Innere des Turmes und setzte sich auf das Fensterbrett.
Sein Herz pochte laut und er war noch niemals so aufgeregt gewesen. Rasch zog er den Traumkäscher, den er an seinem Gürtel festgeschnallt hatte, an seine Brust, und strich vertraulich über den Mondstein.
„Lieber Käscher, kannst du mir nicht Sagen, wo die Traumfänger nun sind?“
Die Luft hier im Turm war erfüllt von Gefahr und Tim wollte so schnell es ging zu Seinesgleichen finden.
Da blinkte der Stein hell auf, so warm und himmelblau wie bei ihrer ersten Unterhaltung.
„Sie sind genau unter uns, ja die anderen Käscher geben mir Kraft. Du musst nur hinunter in den Saal segeln, Tim!“
Die Miene des kleinen Traumfängers erhellte sich beinahe ebenso wie der Mondstein zu vor. Schnell schlich er durch das dunkle Zimmer, er befand sich scheinbar in einer Art Dachboden, und stieg die steilen, spiralförmigen Treppen des Turms ein wenig hinab, bis er plötzlich vor einer großen Tür stand, in der ein sicher faustgroßes Loch war.
Sein Herz pochte wieder schneller, hatte er sich doch noch nie gegen Feinde verteidigen müssen, außer gegen schlechte Träume. Doch er legte das Auge an und linste durch den Spalt in den Saal dahinter. Und was er sah, glaubte er kaum.
Über ein großes Himmelbett gebeugt standen zwei Dutzend erwachsene Traumfänger in gefiederten Gewändern und tuschelten. Überfroh und erleichtert stieß Tim die Flügeltüre auf und rief:
„Ich bin da um euch zu retten!!!!!!!!“
Die fremden Traumfänger zuckten alle heftig zusammen, drehten sich erbost zu dem kleinen Traumfänger um und fauchten:
„SCHT! Sei doch still! Der Prinz war gerade eingeschlafen!!!“
Völlig verwirrt ging Tim zu ihnen, hatte er doch jetzt Lob und Dank und Preisung erwartet.
„Der Prinz?“
Und da sah er ihn.
In dem großen Bett lag ein Junge. Er war älter als Tim Traumfänger. Um genau zu sein war er 13 Jahre alt und der Prinz der Dunkelheit. Und er konnte nicht schlafen.
Die älteren Traumfänger regten sich fürchterlich über Tim auf.
„Seit Monaten sind wir nun hier und versuchen jede Nacht, den Prinzen zum einschlafen zu bewegen. Aber einfach keiner von uns weiß, welche süßen Träume ihn glücklich machen. Immer wieder wacht er auf und sagt, er hätte Alpträume.“
„Ja! Dabei haben wir uns die schönsten Sachen ausgedacht. Eine hübsche Prinzessin, seine verstorbenen Eltern, wieder erwacht, eine Schneeballschlacht, ein…“
Der Prinz hatte rabenschwarzes Haar und war weißer noch als seine rein gewaschene Bettwäsche.
„Ich bin so müde…so schrecklich müde…“, murmelte er nur mit lahmer Zunge. Als er die Augen mühsam öffnete, leuchteten sie Tim jedoch so strahlend grün an, dass er sofort den Traumkäscher hob.
„Lieber Prinz, ich glaube ich weiß, was euch schöne Träume sind!“
Dann lächelte er und schwang nur einmal kurz den Traumkäscher.
Die anderen Zauberer lachten und sahen zu, wie eine grüne Weide mit blauem Himmel und spielenden Zicklein auf den Prinzen zuschwebte.
„Das funktioniert nicht!“, flüsterten viele spöttisch.
Doch der schöne, unschuldige Traum des kleinen Traumfängers verzauberte den Prinzen der Dunkelheit, der schönes Wetter und warme Sonnenstrahlen nicht kannte.
Und der Prinz fiel in einen wohligen Schlaf.
„Wie hast du das nur gemacht?“, fragten die alten Traumfänger gleichzeitig, doch Tim lächelte nur breit und legte den Finger an die Lippen.
„Scht! Der Prinz schläft friedlich. Und ihr solltet jetzt raus in das Land, und die übrigen bösen Träume fangen.“
Der Junge drehte sich zum schlafenden Prinzen.
„Um seine Majestät kann ich mich ja von nun an kümmern.“
Fortan blieb Tim Traumfänger beim Prinz der Dunkelheit, der nun nicht mehr einsam war und dem im Schlaf und zu wacher Stunde ein treuer Kamerad die Welt ein wenig heller machte…