vom November 2oo9
Frau Mahlzahn
… Eine Satire für Frau M., von der wir viel mehr gelernt haben, als wir je zugeben werden können.
Mucksmäuschenstill, tief geduckt, manche vor Angst, manche vor Belustigung, sitzt ihr alle im Klassenzimmer im obersten Stock des Schulgebäudes und lauscht. Frau Mahlzahn keift vor der Tür eine Gruppe kleiner Mädchen so laut an, dass noch der Hausmeister unten im Keller davon taub geworden sein dürfte. Die Fünftklässlerinnen haben einen unvorstellbaren Fehler begangen. Um ihre Nervosität vor dem bevorstehenden Musikunterricht mit eben jener Frau zu bekämpfen, haben sie es gewagt, das Lied der letzten Stunde leise vor sich hin zu summen. Wie sehr bereuen sie es wohl schon jetzt?
Sie sind noch klein und unerfahren im Umgang mit Frau Mahlzahn, deren Fledermausohren jedes noch so kleine Geräusch auf ihrem geliebten obersten Flur – ihr vermutet ja schon längst, dass sie hier wohnt – erlauschen können. Sie wissen noch nicht, dass diese Frau vermutlich auch die Totenstille eines Friedhofs einem Atemgeräusch vorzöge.
Frau Mahlzahn ist ein Urgestein besonderer Klasse, niemand weiß mehr so genau, wann sie angefangen hat an eurer Schule zu unterrichten. Mag sein, dass die Geschichtsschreibung der kleinen Stadt einfach noch nicht so weit zurück reicht…
Dennoch. Ihr Alter ist schlichtweg uneinschätzbar, weil ihr Gesicht vor langer Zeit einmal in Wachs getunkt oder irgend anders konserviert worden sein muss. Nur wenige Mimikfalten durchziehen ihre strenge Miene, rundherum um die eckige Brille, eingerahmt von der genau so eckigen, akkurat zurecht gesäbelten Frisur, die ihr einmal feixend in eurem Geschichtsbuch auf einem Plakat aus den 1920er Jahren wieder erkannt habt.
So hat sie euch noch in der fünften Klasse Angst eingejagt und genau so betritt sie jetzt erneut mit forschem Schritt den Raum, fluchend über die Kleinen, die nun verstört in einer Ecke des Flures hocken und schon zu Anfang ihres ersten Schuljahres an diesem Gymnasium beginnen, um ihren Schulabschluss und ihr Leben zu fürchten.
Ihr hingegen seid jetzt in der letzten, der höchsten Klassenstufe.
SIE ist immer noch dieselbe, auch, wenn ihr sie alle mittlerweile besser kennt.
Sie bleibt ein Rätsel in sich.
Irgendwo an ihr scheint dieser Schalter zu sein, denn sie kennt nur zwei Gemütszustände, die schulbekannten „modi mahlzahnae“:
Es gibt den guten Modus, im Rahmen dessen sie nicht versteinert, sondern eher jung geblieben wirkt. Sie offenbart ihre Leidenschaft für Sprache und Literatur, in ihren Augen liegt dann der schwärmerische Glanz einer begeisterten Bücherwürmin. Wenn beide Parteien in der Stimmung dazu sind, kann dann oft ein spannender Dialog zwischen euch Oberstufenschülern und ihr entstehen. Dass sie sich zur Unterstufe ebenso verhalten kann, wagst du zu bezweifeln. Für diese kleinen Menschen, die weder einen Kafka, noch einen Heine, noch einen Goethe, noch einen Sophokles zu verstehen vermögen, für die hat sie kein Verständnis.
Sie kann sich mit ihnen nicht unterhalten und schaltet dann oft so blitzschnell in ihren zweiten Modus um, dass man ein wachsamer Beobachter sein muss, um nicht vor Schreck von seinem Stuhl zu fallen. Denn die einzige Stimmungsalternative, die sie zu sehen scheint, ist totale, ja totalitäre Missgelauntheit. Sie mutiert zu einem keifenden, überstrengen Kinderschreck von einer Frau, die ganz plötzlich und ohne Vorwarnung gleich aus mehreren Häuten fährt und kurz davor ist, Feuer zu speien. Aus ihrer Nase glaubst du schon öfter Rauch aufsteigen gesehen zu haben. Einzelne Haare lösen sich dann aus dem geometrisch exakten Haarhelm und kräuseln sich in alle Richtungen von ihrem zornigen kleinen Kopf ab, so wie jetzt gerade…
„Wo war ich jetzt noch??!“, fragt ihre harsche, immer irgendwie kratzige Stimme (am Anfang hattest du ständig das Bedürfnis, der Frau Eukalyptusbonbons in den Rachen zu werfen) in den Raum hinein. Es ist nie ganz klar, ob sie nun gerade mit euch als Kurs spricht oder einfach nur mit sich selbst. Darum traut sich selten jemand, ihr zu antworten, was ihr nur noch mehr Anlass gibt, sich über die gemeine Schülerschaft aufzuregen. Sie sei respektlos und unaufmerksam. Eigentlich hast du dir vorgenommen, dir diese Ausdünstungen nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen. Und doch fühlst du dich im Innern irgendwie beleidigt, wenn sie solche losen Behauptungen in die stickige Luft des Zimmers wirft. Gegen zu argumentieren traust du dich jedoch nie. Deine Abiturnote ist noch nicht sicher.
Plötzlich hebt sie ihren Blick halb von ihrem Zensurenheft und blitzt zu dir hinüber. Deine Brust zieht sich fest zusammen als du bemerkst, dass es ihr gerade um die Bewertung deines Referates ging. Vor ein paar Minuten, vor dem „Aufstand der Zwerge“ da auf dem Flur, hättest du dahin reichend auch noch relativ gute Karten gehabt.
Als sie gerade noch der goldene Drache der Weisheit war…
„Ach ja…“ raunt sie leise. Deine Hände beginnen zu zittern. Eigentlich bist du kein ängstliches Mädchen, noch nie gewesen. Andererseits musstest du noch nie so sehr um deine guten Zensuren und deinen gesamten Schulabschluss bibbern, wie bei dieser Frau. War eben noch ein Funke Hoffnung in dir, deine Note eher verbessert denn verschlechtert zu haben, siehst du die Aufforderung, besser zu ihr nach vorn zu kommen schon als das ENDE. Sie will dich in ihren persönlichen Klauen, unter vier Augen gefangen haben. Das kann einfach nichts gutes heißen. Du siehst ihre Notizen zu deinem Vortrag auf dem Tisch liegen. Unzählbar scheinende, blutrote Zeilen, aggressiv hinein geschnitten ins unschuldige weiße Papier. Die Angst kriecht dir bis in die Kehle, rollt sich zu einem fetten Kloß zusammen und nimmt dir immer mehr den Atem. Kaum bist du nahe genug für sie, entweicht den schmalen, gekräuselten Lippen ein abschätziges „TzeTzeTze…“ und du willst sofort, umgehend sterben. Ein Freitod kommt dir angenehmer vor als das, was nun folgen wird: Ein grollendes Gewitter von Kritik, während dessen du dich am liebsten zu Boden werfen und versprechen würdest, sogar ins Kloster zu gehen, solltest du das hier überleben.
Dann legt Mahlzahn los. Und es ist so viel schlimmer als jedes Gewitter, dass du bisher erlebt hast. Mit pathologischer Abgebrühtheit beginnt sie, dein mit redlicher Mühe ausgearbeitetes Referat fein säuberlich zu sezieren. Von deiner Einleitung bis hin zu den famous last words scheint sie einfach alles unter ihrem Topfschnitt abgespeichert zu haben und löchert dich zu jedem deiner Nebensätze mit lächerlich detailverbohrten Fragen. Sie ist eine Meisterin der Rhetorik, zumindest was das berühmte „Worte im Munde verdrehen“ betrifft. Sie setzt dich bei jedem Verteidigungsversuch schachmatt, verdreht locker aus dem Handgelenk die Tatsachen und kümmert sich dabei keineswegs um deinen Zustand. Dir wird immer wieder heiß und kalt. Du schwitzt. Dir ist speiübel. Und während du versuchst, ihr statt der Kotze, die dir im Rachen sitzt, nur eine einzige vernünftige Antwort entgegen zu bringen, nimmt sie dir den gestotterten Satz von der Zunge und dreht sich alles so zurecht, wie sie es braucht, um dich weiter zu foltern und dir gnadenlos Punkt um Punkt zu entziehen. Deine Note wird dir dabei ganz egal, deine natürlichen Instinkte werden wach. Was kümmern dich denn schon eine schlechte Zensur, dein Schulabschluss oder dein Studium, solang du nur weiter leben darfst, anstatt zermalmt und gefressen zu werden?!
Dass sie mit dir eigentlich „unter vier Augen“ sprechen wollte hat sie wohl vergessen, denn sie zeigt laut argumentierend und vernichtend über den Rand ihrer Eulenbrille hinweg blickend auf den Rest deines Kurses.
„Glaubst du auch nur einer von denen hat etwas aus deinem lausigen Gestammel mitgenommen?“
Sie dreht dir den Rücken zu und schaut in das bis eben zu eisigem Schweigen erstarrte Auditorium. Deinen Mitschülern stehen verschiedene Emotionen ins Gesicht geschrieben. Langeweile. Unsicherheit. Angst. Das IST das Ende.. und zu viel für dich.
Da nun sowieso alles egal ist, presst du die Augen fest zu und lässt die heißen Tränen der Verzweiflung einfach deine Wangen hinab kullern. Dem Mahlzahn ist das ohnehin egal, er hat dich besiegt. Helfen kann dir auch niemand mehr.
Doch auf einmal…
Jemand räuspert sich.
Stühle rücken.
Ist die Pausenklingel kaputt?!
Noch mehr Leute räuspern sich.
Noch mehr Stühle werden gerückt.
Dann ruft jemand: „BRAVO!“
Tosender Applaus bricht los.
Erschrocken reißt du die Augen auf.
Der gesamte Kurs steht vor dir, aber eigentlich hinter dir.
Sie beklatschen dich, johlen und jubeln.
„Spitzen Ding!“
„ZUGABE! ZUGABE!“
Im ersten Moment begreifst du es nicht. Siehst in die weit grinsenden Gesichter deiner Klassenkameraden, die meisten kennst du seit über 12 Jahren. Dir wird wohlig warm. Zwei letzte Tränen rollen über dein Gesicht. Dann grinst du mit. Erhobenen Hauptes gehst du am fassungslos dastehenden Mahlzahn vorbei in die Reihen der Applaudierenden.
Die Arme deiner besten Freunde fangen dich auf und selbst wenn SIE jetzt noch etwas sagen würde.
Nichts würde dich kümmern.