von 2oo8
Far Away
Prolog: Wenn das mal Liebe war...
Mit trübem Blick beobachtete Bela, wie hinter den Kegeln der orangen Laternenlichter, die die Autobahn säumten, dunkle und scheinbar immer gleiche Landschaft vorbeizog. Ab und an blitze entfernt eine Reihe weißer und bunter Punkte das große Busfenster entlang, der Himmel war bedeckt und schwarz. Und eigentlich waren es diese Stunden, die der Schlagzeuger gern nutzte, um Geschehenes zu verarbeiten, Erlebnisse zu kompensieren und zu genießen, so frei und unbedarft sein zu dürfen. Im theoretischen Sinn gab es momentan keine Abgründe, die ihn hätten aus dem Gleichgewicht bringen oder gar in irgendeine Tiefe ziehen können. Sein erstes ganz eigenes Baby, sein Album war unter den behutsamen, helfenden Händen anderer Menschen aber vor allem aus seiner eigenen Kraft heraus gesund zur Welt gekommen und war fortan von vielen bestaunt und mit Freude aufgenommen worden. Er hatte nach einigen Monaten der Solo-Tour zusehen können, wie es aufwuchs und waren sowohl die Proben als auch die ersten Konzerte eine sehr schwierige Pubertät gewesen, so stand es doch jetzt auf seinen eigenen Beinen, konnte gehen und begann allmählich, sich selbstständig zu machen. Die Songs schienen von Abend zu Abend gebundener zu klingen und die Gruppe aus so unterschiedlich zusammen gefundenen Menschen verschmolz immer mehr zu einer Bandfamilie. Alle war bestens. Und doch.
Da sein Kind nun aus dem gröbsten heraus war und er als seine Mutter oder Vater oder wie auch immer wieder mehr Zeit für sich hatte, begann er, melancholisch zu werden. Das vergangene Jahr war erfüllt gewesen von Momenten, die ihn unglaublich gerührt und emotional so sehr eingebunden hatten, dass er etwas tief in seinem Inneren verdängt hatte, was sich jetzt wieder an die Oberfläche vorgearbeitet hatte und immer wichtiger wurde.
Er seufzte gedämpft in das harte Kissen seiner Buskoje, langte nach oben und schaltete das kleine Licht über dem Fensterrahmen an. Sein Spiegelbild zeigte sich in der Scheibe. Seine Augen waren kleiner als sonst, seine Gesichtsfarbe erkannte er nicht. Die Lampe und die Autobahnlaternen verfärbten ihn gelborange. Halb angewidert schloss er die Augen, sank auf den Rücken. Schon tauchte Farins Gesicht vor ihm auf, wie in den letzten Stunden schon. Er wusste leider sogar sehr genau, was der Auslöser für seinen plötzlichen Tiefsinn gewesen war. Jetzt hatte er in Berlin gespielt, ein verliebtes, nostalgisches und romantisches Konzert. Jetzt hatte er in Hamburg gespielt, ein schweißtreibendes, euphorisches und irgendwie glückselig machendes Konzert. Und bei keinem war er dabei gewesen, obwohl diese beiden Orte sie sehr verbanden. Beim ersten Mal hatte er nur an sein Mädchen gedacht, beim zweiten nur an seinen Vater, nur an Menschen, die ihm auch wichtiger als die meisten anderen waren. Nun begann er sich jedoch zu fragen, ob er das nicht vielleicht getan hatte, um zu verdrängen, wer eigentlich fehlte und von wem er sich so sehr wünschte, dass er Respekt vor dem hatte, was er allein schaffte. Dass er endlich einmal Respekt hatte, klatschte und ... stolz sein konnte.
Bela verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als ein schwerer Kloß versuchte, sich in seinem Hals fest zusetzen und gewichtig an seinen Augenwinkeln zerrte. Es brannte.
Seine Uhr zeigte noch einige Stunden bis zu ihrer Ankunft in Köln und dass er sich eigentlich schon im Rahmen seines Off-Tages befand. Erneut musste er seufzen, löschte das Licht wieder, wickelte sich in das dünne Oberbett ein und zählte die silbern-weißen Städtestreifen bis ihn das regelmäßige Atmen und teilweise Schnarchen seiner Band in leichten Schlaf übergleiten ließ
...
Fast einen halben Tag später stand er am Kölner Bahnhof und sah mit leichtem Herzklopfen, dessen Anwesenheit er am Morgen schon bemerkt hatte, zu, wie der ICE aus Berlin vor ihm anhielt. Jede vorbeiziehende Tür hatte er nach ihr abgesucht. Die zweite Klasse hatte sie fahren wollen, um jeden Preis, der Jugendlichkeit wegen. Er hatte verliebt gegrinst und das Ticket umbestellt.
Das Scharnier bewegte sich lautlos, mit einem Zischen schwangen die Türen zur Seite. Und sein kleiner Engel sprang ihm, ihr Gepäck mit sich reißend, auf dem Bahnsteig entgegen. Ihre Augen strahlten und er schlang seine Arme so fest es ging um sie, vergrub die Nase in ihrer schmalen Halsbeuge. Sie roch nach Früchten, am ehesten nach Kirschen und ein wenig nach frischer Luft. Bela atmete befreit, das Bild in seinem Kopf verblasste ein wenig, kitschige rosarote Zuckerwattewolken begannen, es zu verdecken. Ihre Lippen waren süß und weich, ihre Küsse wie Schmetterlinge.
Einige Minuten sahen sie sich an, tauschten leuchtende, zärtliche und beinahe ein bisschen stereotype Blicke aus. Dann nahm er ihren Koffer und sie verließen den Bahnhof. Er umschloss mit seiner warmen ihre kühle kleine Hand und begann, ausgelassen zu schlendern.
Na bitte.
...
Bela und Sarah hatten sich einen entspannten und erwartet ausgeglichenen Tag gegönnt und jedes Ziel und jede Unternehmung sehr spontan entschlossen. Einige Stunden lang waren sie, sich fast schüchtern an den Händen haltend, durch die Kölner Altstadt spaziert, hatten hier für ein Mittagessen, da für ein Eis und dort vor einem Ladenschaufenster angehalten. Wenn sein kleiner Engel gelöst und fröhlich war, liebte sie es, in den verschiedensten Klamottenläden herum zu graben und wenn sie ihm dann ein Outfit nach dem anderen zeigte und so furchtbar glücklich schaute, kam er kaum umhin, ihr mindestens eines zu schenken. Kurz hatte er, auf dem dritten Sofa vor einer Umkleidekabine sitzend, Farins Stimme im Ohr gehabt, die ihn ermahnte, er ließe sich von nahezu jedem ausnutzen und wäre viel zu großherzig.
Im Übereifer, den Blonden aus seinem Kopf verbannen zu wollen, hatte er gleich ein Kleid, zwei Blusen und zwei Röcke für sie bezahlt und zufrieden wahrgenommen, wie er beim Anblick des dankbar errötenden, niedlichen Mädchens auf andere Gedanken kam.
So nahm er es gern in Kauf, dass er seiner Freundin zu Liebe auf einen trashigen Horrorfilm im Kino verzichtete, lieber stilvoll im Hotel mit ihr essen ging und dabei nach und nach romantischer und verführerischer sprach und gestikulierte. Er wusste, wie sehr sie das mochte und als er gerade die Tür des nicht allzu großen Zimmers geschlossen hatte, gab er der schmalen, kleinen Hand nach, die ihn sanft mit auf das reinweiße Himmelbett zog.
...
Erst zu unbestimmter, jedoch mit Sicherheit sehr später Stunde, erwachte er wieder aus seiner Traumwelt. Im Halbdunkel spürte er, wie sich der zierliche Körper an seinen eigenen schmiegte, nach Wärme und selbst nicht wirklich vermochte, ihm etwas zurück zu geben. Bela erschrak bei diesem Gedanken. Und doch. Genau das war es, was er begonnen hatte, zu vermissen. Die langen Arme, die nicht immer nur seines Schutzes bedurften, sondern auch zum richtigen Zeitpunkt warm und haltgebend um ihn geschlungen verharrten, bis seine Albträume, seine düsteren Gedanken und seine Schmerzen ihn in Ruhe ließen. Leise warme Luftstöße gelangten an seine Brust, die braunen Locken kitzelten sein Kinn ein wenig.
Er vermisste eine Nasenspitze, die ich in seinem Nacken vergrub, das zeitweise Brummen, die Eigenschaft, sich genüsslich um ihn herum einzurollen, wenn sich sein Gegenüber am wohlsten fühlte.
Nachdenklich strich seine Hand durch ihr dichtes, halblanges Haar und fast verärgert erkannte er, dass er am liebsten die leicht rauen, rasierten blonden Stoppeln im Nacken ertastet hätte.
Resigniert sah er aus dem großen Fenster hinaus zum Horizont, an dem sich ein gleißend heller, schmaler Lichtstreifen seinen Weg über Kölns malerischen Umriss bahnte.
Langsam verschwammen die funkelnden Sterne, unter denen sie sich ihm hingegeben hatte und mit zitternden Augenlidern schmiegte er sich fester an das Mädchen in seinem Bett und versuchte, zu schlafen.
...
Kapitel 1: Es geht jetzt schon seit Stunden...
Beim zweiten Mal fühlte sich die Szene an, als würde nur ein altes Videoband in seinem Kopf zurück gespult. Sie hatte Termine, musste nach Berlin zurück. Beide betraten den Bahnhof mit einem Lächeln, küssten sich, umarmten sich innig. Dann löste sie sich von ihm, stieg in den Zug. Als die Türen sich schlossen und sie im Gedränge der Fahrgäste aus seinem Blickfeld verschwand, begann sein Herz erneut schneller zu klopfen, beinahe so, als erlebte er den Vortag, die Empfindungen von gestern rückwärts.
Kurz fragte er sich, warum sie nicht mit dem Rücken zum Gleis wieder eingestiegen war. Dann schüttelte er den Kopf, grinste leicht über sich.
Und doch.
Das Herzklopfen war anders, fast ein Hämmern, dass eigenartig düster in seinem Inneren wiederhallte. Der rosarote Nebel verzog sich, verlor sich im Nichts, mitgetragen vom fahrenden ICE, obwohl er doch eigentlich schon in der Nacht begonnen hatte, sich zu lichten. Als er die Stufen des Bahnsteigs hinab stieg und einen flüchtigen, sinnlosen Blick auf die große analoge Uhr warf, da lachte Farin Urlaub in seinem Hinterkopf herzlicher denn je, unter seinen Fingerspitzen lag seine feste, straffe Haut, die so schnell von ihrer schwachen Urlaubsbräune verlassen war und in Belas Augen brannten salzige, stechende Tränen.
Arschloch.
Im Verlauf des Tages fraßen sich die letzten Erinnerungen an den blonden Hünen erneut tief in Belas Kopf hinein, verursachten einen heimtückischen Schmerz und in sein Bewusstsein drang deutlicher als in den ganzen letzten Wochen vor, dass er ihn fast verloren hätte, auf dieser verdammten Reise. Er fragte sich, wie Farin jetzt wohl aussah. Ob seine Augen noch so stumpf wie direkt nach dem Unfall, ob seine Haare immer noch geschoren waren und ob er immer noch so fürchterlich dünn und graugesichtig war. Die Bilder des kalten Krankenzimmers und des schwachen, betäubten Riesen, die Bela gesehen hatte, waren auf einmal da, lose, ohne Ausgangspunkt waren sie aufgetaucht und ließen ihn nun nicht mehr los. Bis seine Band zum Soundcheck aufbrach lag der große Solokünstler klein und irgendwie hilflos in seinem Hotelbett und gab sich geradezu resignierend seinen einerseits besorgten, andererseits sehnsüchtigen Gedanken hin. Ja, tatsächlich verzehrte er sich auf eine eigene Weise nach seinem Freund, nach dem Gefühl, ihn bei sich zu haben. Aber seine Träume waren kaum durch Speichelaustausch oder bloßen Sex definiert. Wichtiger und noch entfernter erschienen ihm Blicke, Gesten, Worte. Ein Lachen. Jan.
Er begann, an allem zu zweifeln. Wieder rückte dieser abstruse aber schließlich doch nicht allzu irrsinnige Gedanke, die Band aufzulösen in sein Blickfeld.
Was war, wenn ER Die Ärzte nicht mehr wollte, wenn er ihn, wenn er Bela B. nicht mehr wollte? Wie sollte es eine Welt nach einer Band mit IHM geben? Und war dieses Soloprojekt eine gute Idee gewesen? Bela konnte erst über sich lachen, als er seinen Bühnenanzug in der Hand hielt und insgeheim dachte, dass ein Farin Urlaub ihn sicherlich für zu ausgeflippt und übertrieben und sowieso für viel zu gewagt gehalten hätte.
Er schüttelte über sich selbst den Kopf, schloss die kleine Sporttasche und begab sich mit seiner kleinen Familie und Anhang zur erwählten Köllschen Lokalität, dem E-Werk, in der ein recht reibungsloser Soundcheck stattfand, einzig gestört von Belas zehrenden Kopfschmerzen.
Kaum zwei Stunden später spürte er, wie seine Füße nach einem gezielten Sprung in der Mitte der Bühne landeten, wie ihm der Jubel entgegen brauste und ein langsamer, jedoch Lied für Lied immer mehr und schneller rotierender Wirbel aus euphorischem Geschrei und Gesang und den fünf Instrumenten ihn einem Hurricane gleich, immer tiefer in eines seiner ekstasischsten Konzerte hinein zog. Sein Kopf war zuvor von schierer Nervosität leer geblasen worden. Die Fans, die Musik umfingen ihn ganz, nahmen ihn auf, waren ein heilsamer Schutz auf seiner über die vergangenen Stunden so dünn gewordenen Haut.
Halt gebend, sichernd, treu.
Fast so ein Schild, wie Farin es lange Zeit gewesen war.
Doch genau daran lag es, dass irgendetwas das Klima des Konzerts veränderte, im Vergleich zu anderen. Ein fester Blick, ein durchdringendes Paar Augen musste es sein, die wie ein Bann auf Bela lasteten. Er sah immer wieder durch die Reihen, sah nur verschwitzte, glückliche und völlig loyale Gesichter, junge, angerührte Menschen...
Er wusste es. Er war da. Er war irgendwo, aber er war da. Als Bela das klar wurde, spielte Wayne an seiner Seite gerade das Intro für seinen letzten Song. Oh ja, er spürte sehr deutlich, irgendwie war Jan da... mit mehr Gefühl hatte er diesen Song noch nie gesungen, war er doch eigentlich nur für IHN allein.
...
Er geht jetzt schon seit Stunden
Unser kleiner dummer Streit
Übersät mit Wunden
Doch zur Einsicht sind wie nicht bereit
Ich könnte dich erwürgen
Ich bin wirklich angepisst
Da fällt mir wieder auf
Wie wunderschön du bist
...
Noch mehr Jubel, noch mehr Geschrei. Bela grinste mechanisch, aber war taub, Fiepen in seinen Ohren. Nach der dritten Verbeugung verließ er als letzter der Fünf die Bühne, glückselig, wie nah er sich seinem Freund gefühlt hatte. Als hätte er direkt neben ihm gestanden und ihm zugesehen... und vor allem zugehört.
Und dann stolperte er, verschwitzt, euphorisiert, fiel fast gegen den Riesen vor ihm, sah entschuldigend aber nach wie vor breit grinsend nach oben.
Und Jan war da.
Leibhaftig stand Farin Urlaub vor ihm. Er strahlte vor Begeisterung, mit einer seltsamen Ruhe, die nur ihm eigen zu sein schien. Seine Augen glänzten wie nie zuvor, Belas Sorge schien vollkommen unnötig gewesen zu sein.
Noch vor keinem Wiedersehen mit Sarah hatte dessen Herz so sehr, von den Knien bis in seine Schläfen, gehämmert.
Sekunden vergingen.
Bela taumelte und fiel ihm einfach in die Arme und ihm war mehr denn je egal, was irgendjemand und sonst wer von ihnen dachte. Er zitterte, bebte, er wollte schreien und laut lachen und ihn verprügeln und umarmte ihn schließlich fest.
„Du warst fantastisch...“, flüsterte Farin.
„Arschloch!“, keuchte Bela.
Kapitel 2: Er ist gegangen
Farins plötzlicher Besuch hatte Bela selbst nur noch mehr euphorisiert, als es ein derart erfolgreiches Konzert ohnehin tat. Sein Herz raste, adrenalingefülltes Blut rauschte in seinen Ohren und er ließ sich mitreißen von dem wiederkehrenden Wirbel, der um ihn herum veranstaltet wurde. Allerdings schien all das nur eine Art kurzer Drogentrip zu sein. So schnell er gekommen war, so schnell ging er und nach einer Viertelstunde fand Bela seinen Freund nicht wieder. Irgendjemand erklärte, er sei müde gewesen und ein wenig gelangweilt von dannen gezogen.
Zuerst fühlte Bela sich schuldig. Er hatte kaum zehn Minuten mit ihm geredet und erst im zweiten Club des Abends angekommen bemerkt, wie wenig begeistert Farin gefolgt war. Sicherlich hatte sich der nicht allzu sehr als Partylöwe bekannte Hüne eher einen entspannt ausgeflippten Absturz der beiden vorgestellt. Zu zweit. Videos gucken, Musik hören, reden. Über alles.
Im selben Moment schoss ihm allerdings die Enttäuschung in den Magen. Sie hatten einen Small Talk geführt wie zwei Geschäftsleute:
Ich bin wieder da.
Zu dieser und jener Zeit hier. Hat Rod dich angerufen? Ja mich auch.
Hast du hier und dort Zeit?
Wir müssen noch dies und das planen.
Ernüchternd.
Alles war so abgeklärt gelaufen, dass jenes Bauchgefühl, auf das Bela sein Leben lang vertraute, sich kritisierend gemeldet und ihn von Farin fort gezogen hatte. Weg von all diesen wirtschaftlichen Betrachtungen. Da war nichts gewesen von sprudelnder Kreativität und kindlichem Wahnsinn. Noch nicht.
Brauchten sie möglicher Weise Zeit, sich wieder aneinander zu gewöhnen?
Oder um sich wieder, noch einmal ganz neu zu entdecken und die Gewohnheiten zu vergessen? In Belas Brust verzog sich etwas schmerzhaft. Er war mehr als enttäuscht. Es tat weh, so abserviert zu werden. So abzuservieren.
In die Party fand er den ganzen Abend nicht zurück, blieb jedoch im Club, bis der letzte gegangen war. Er hatte Whiskey trinken wollen. Aber der Geschmack war so erschreckend nostalgisch über seinen Gaumen gestrichen, dass er nun zu Vodka übergegangen war. Der sah zwar aus, roch und schmeckte wie Desinfektionsmittel – es schien die billigere Sorte zu sein, die seine Zunge nicht mehr gewohnt war – erinnerte ihn aber nicht an glückliche Nächte, in denen diese Band aus drei Verrückten noch alles war, was er zum leben brauchte.
So ließ er sich von seiner Sängerin, die unter Alkoholeinfluss schnell zum wenig mädchenhaften Saufkumpanen wurde, und dem Schlagzeuger Danny, der das ohnehin 24 Stunden am Tag zu sein schien, überreden, noch einmal durch die Innenstadt zu streifen.
Da er heute selbst mit den Getränken gespart hatte, entging ihm nicht, wie kühl die klare Septemberluft war. Keine Wolke verhing den Himmel und kein Nebel seinen Kopf. Er fühlte sich eigenartig frei, obwohl ihn der Stein in seiner Brust nach unten zog und am fliegen hinderte. Er scherzte und lachte mit den beiden Freunden, ging zu später Stunde sogar mit ihnen tanzen.
Erst im Morgengrauen kehrten sie zurück, alle samt immer schweigsamer geworden.
Die Hotellobby war noch recht leer, einzig erfüllt von dem sprenkeln eines kleinen Brunnens und dem Klicken der Tastatur, während die Dame an der Rezeption ihre Abrechnungen machte.
Plötzlich, ganz unverhofft, überkam ein flaues Gefühl Belas Magen und er schritt schnell auf den polierten Tresen zu, hinter dem die Frau klickte und Kaffee schlürfte.
„Guten Morgen.“
„Ja... hat... hat Herr Vetter einen Weckanruf bestellt?“
„Moment...“, sie klickte eifriger, „Ja... vor zwei Stunden.“
„... Heißt das, er hat schon ausgecheckt??“
Die müde Frau nickte verwirrt.
„Gehören sie zu ihm?“
Bela schluckte: „Na ja... so ähnlich. Er ist zum Bahnhof -?“
Nach erneutem Nicken sah Bela rasch zu Paule, die ihm nur lächelnd zunickte, kurz winkte und dann dem blonden Schlagzeuger folgte.
Ohne weiter darüber nachzudenken hastete er wieder nach draußen, sah sich kurz um und fand dann den Weg in die ihm schon viel zu bekannte Bahnhofshalle.
Nervös suchten seine Augen die Anzeigetafel nach dem passenden Zug ab. Dann hörte er eine Ansage. Hamburg. Er rannte die Treppen zum angesagten Gleis nach oben. Überall waren Menschen, die er nicht aggressiv, aber energisch genug um unfreundlich zu wirken, zur Seite schob.
Er wollte Farin nicht einfach so verschwinden lassen, um ihn erst zur nächsten Besprechung wieder zu treffen. Mit relativer Sicherheit würde er die folgenden Wochen Freunde und Familie besuchen, viel erzählen, Fotos zeigen und Geschenke vorbeibringen. Dann würden die Proben beginnen. Bela selbst würde auf Tour sein, keine Zeit und auch keinen so freien Kopf mehr haben, wie er ihn jetzt, nach dieser durchgelebten, genossenen Nacht besaß. Er fühlte sich nüchtern aber der Wind strömte immer noch so frisch und frei um ihn herum und durch seinen Körper, dass ihm all seine Gefühle von der Zunge hätten gleiten können. Einfach so und in den schönsten Worten, die auf der Welt zu finden waren.
Wieder fuhr ein Zug ein, wieder ein ICE. Doch diesmal war alles Herzklopfen tausende Male intensiver als noch vor zwei Tagen. Da stand er, trank den letzten Schluck aus einem dampfenden, braunen Plastikbecher. Automatenkaffee. Folglich musste er sehr, sehr müde sein.
Plötzlich sah er auf, erst gerade aus. Er wandte langsam seinen Kopf. Und sah Bela direkt in die Augen. Er lächelte matt. Belas Schritte wurden schneller, er rannte und die Schlange vor der Wagontür war zu lang, als das der Blonde noch hätte fliehen können.
„Jan- “
Keuchend und schlitternd kam Bela zum Stehen, stützte kurz die Hände auf die Knie und sah dann mit einem halbseidenen Lächeln nach oben, dass seinem Triumph gegen die Zeit und primär gegen die Deutsche Bahn nicht gerecht werden wollte.
„Felse... So früh schon wach?“ Farin grinste altbekannt zu ihm hinab. Bela richtete sich langsam auf, unterbrach den Augenkontakt nicht und einige Minuten standen sie sich einfach so gegenüber, während sein hastiger Atem sich beruhigte und er sich fühlte wie die Hauptrolle in einer seltsamen Schnulze, die gefühlte Stunden der zweiten Hauptrolle gegenüber stand, während um sie herum ein riesiger Schwarm von geschäftigen Leuten im Zeitraffer vorüber schwirrte. Sie waren einen Augenblick lang abgeschottet von allem. Dann ertönte ein Pfiff, der die Schutzhülle zerriss, Farin zog seinen Koffer an sich, Belas Herz begann wieder zu rasen.
„Wann sehn wir uns wieder?“
Ein Schulterzucken, ein müdes Lächeln, die Schlange wurde immer kürzer, kroch nach und nach in den Schnellzug hinein. Zweite Klasse.
Bela schluckte, erwiderte die sehr flüchtige Umarmung zu spät und als der große blonde Mann die wenigen Stufen hinauf stieg und noch einmal erschöpft, ja abgekämpft über die Schulter zu ihm lächelte, während die Wagontür sich zwischen sie schob, traf den Älteren ein kalter Windstoß in seinem ungeschützten Nacken.
Ein erneuter Pfiff. Der Zug fuhr ab. Die eben noch angenehm frische Luft wurde bitterkalt und lag schwer wie Eiswasser in seiner Brust. Er hatte die Chance.
Er kam eben immer zu spät...
Kapitel 3: Was ist nur los?
Die nächsten Tage waren seltsam still. Sobald Bela die Bühne betrat, gab es eine heile Welt. Kindisch, eigentlich. Aber vor und nach den Konzerten, der Show, holten ihn immer wieder stechende Kopfschmerzen ein und erlaubten ihm keine gedankenlose, freie Minute. Irgendetwas hatte sich verändert, ganz plötzlich.
Oder war es Bela nur so ganz plötzlich aufgefallen?
Farin war wieder da, in Deutschland, in seinem kleinen weißen Häuschen, was mit seinem mediterranem Flair gar nicht in den feuchten, kalten Norden Niedersachsens passen wollte, dessen Türbogen aber auch viel zu hoch für den Baustil waren. An den Rahmen, wie sie im Mittelmeerraum oder auch in Norddeutschland für die strohgedeckten Flachbauten verwendet wurden, hätte er sich irgendwann zweifellos so viele Beulen gestoßen, dass sein Kopf auf doppelte Größe angeschwollen wäre.
Bela lächelte kurz, setzte sich in seiner angewärmten Schlafkoje kurz auf. Doch da traf ihn erneut ein fieser Stich im Hinterkopf und er lies sich seufzend wieder in die Daunen fallen.
Farin war also zurück.
Schön.
Er war sogar bei seinem Konzert gewesen.
SEINEM.
Er hatte ihm zugesehen, aus dem Publikum heraus.
Eigentlich war das doch alles, was er sich bis vor ein paar Tagen noch gewünscht hatte.
Oder nicht?
...
Doch. Schon.
Und irgendwie auch nicht. Es war enttäuschend gewesen. Bela verzog das Gesicht. Autsch. Er tastete in dem angeschraubten Regal neben ihm nach Aspirin.
Eine Packung. Aber kein Wasser...
Er stöhnte genervt in sein Kissen. Es war mitten in der Nacht, sie fuhren und fuhren, seine Bandkollegen schnarchten und schnarchten und wenn er jetzt einen von ihnen aufwecken würde, wäre wieder einmal die Hölle los. Da er allerdings nach wie vor keinen Sklaven besaß, der immer wach in einer Ecke angekettet saß und auf seine Befehle wartete, musste er den Weg bis zu der kleinen Küchenzeile selbst auf sich nehmen. Ausgerechnet heute Abend hatte sich niemand eine Flasche Wasser mit zu seinem Schlafplatz genommen.
Sich schließlich doch dem Schicksal und seinem Durst beugend, stieg er barfuss die eiskalten Stiegen hinab, die silbrigen Stangen verschwammen vor seinen Augen. Als er am Boden angekommen war, musste er sich minutenlang am Bett seines Gitarristen abstützen. Weiße Punkte tanzten vor seinen Augen einen fröhlichen, aber wirren Reigen und er taumelte fast schon benommen bis zu der kleinen Sitzgruppe weiter vorn im Bus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben waren. Raucherpause wahrscheinlich.
Es war sein Glück, denn bei voller Fahrt wäre er mit Sicherheit aus dem Gleichgewicht und unsanft zu Boden gebracht worden. So sank er noch rechtzeitig auf der gepolsterten Bank nieder und trank einen Schluck (noch nie war ihm ein Schraubverschluss als ein so großes Hindernis vorgekommen, wie in diesem Moment) aus einer Flasche abgestandenen Mineralwassers. Seine Sicht wurde klarer, er atmete tief durch, fuhr sich durch die verschwitzten Haare.
Sekunden später waren die Schmerzen nur noch größer geworden und hatten – so ganz ohne den Taumel der nahenden Ohnmacht – noch schärfere Umrisse bekommen. Er registrierte kaum, dass der Bus wieder anfuhr, bis ein Hinweisschild hinter der rettenden kalten Fensterglasscheibe vorbei flitzte.
FrankFUrt.
Hastig trank er noch einen Schluck, wobei ihm ein Schwapp Wasser über Kinn und Hals spritze. Dieser Kerl machte ihn krank.
Schneller als es Bela lieb war schritt das Jahr fort und somit auch seine erste ganz eigene Solotour. Was beständig anhielt waren seine schweren, schmerzhaften Gedanken an Farin Urlaub und ihre letzte zweifelhafte Begegnung auf dem Bahnhof. Natürlich hatte er schon vorher oft an den blonden Riesen gedacht, seit diesem Morgen auf dem kölschen Gleis allerdings, hatte sich ein unangenehm flaues Gefühl in seinen Magen gelegt, welches ihn stets daran erinnerte, dass er seinen ehemals besten Freund bald wiedersehen würde und dass er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er ihm gegenüber treten sollte.
Dieser Ideenlosigkeit zum Trotz holten ihn die Kopfschmerzen immer wieder ein und es fühlte sich an, als würde sein Schädel zum zerbersten gefüllt sein. Er war es eigentlich auch. Ständig wurde Bela konfrontiert mit Fragen, die zu klären, Fakten, die zu entscheiden, Terminen, die festzulegen waren. Er fühlte sich gerade so, als sei er zu genau dem geworden, was er nie hatte werden wollen.
Eine gehetzte, von einem Geschäft zum nächsten rasende Businessmaschine.
Die Flut an Interviewinteressenten, Senderbesuchen und Bandorganisatorischen Dingen rauschte an ihm entlang und bis auf den unheilvollen blonden Störfaktor in seinem Kopf fand Bela nur eine einzige Konstante, einen Stein im Fluss, an den er sich klammern konnte:
Sarah.
Kaum hatte der Tourbus ihn vor ihrer Haustür abgesetzt, lies er kaum noch von seiner Freundin ab. Sie freute sich zunächst, wie ein Haushund, mit dem monatelang niemand Gassi gegangen war. Jeden Abend führte er sie aus, besuchte mit ihr Kinos, Restaurants, Bars, einmal sogar das Theater und verwöhnte sie und sich selbst nach Strich und Faden, ohne dabei auf seine Ausgaben zu achten. Das lag allerdings auch an seiner inneren Euphorie. Die erste Bingo-Auflage war ausverkauft. Wirtschaftlich ging es für ihn weiter steil bergauf. Bela wurde übel, als er eines Abends im Zug auf der Schnellstrecke Hamburg – Berlin saß, und diesen Sastz, dieses Wort dachte.
Wirtschaftlich.
Ein Brechreiz überkam ihn und er starrte einen Moment lang mit leerem Blick auf den Bildschirm seines Laptops. Ihre Managerin hatte eine Rundmail geschickt. Das Meeting stand in ein paar Tagen an. Darunter eine Liste mit den abzuarbeitenden Punkten.
Ich steig aus.
Es war einen Augenaufschlag lang sein fester Entschluss, danach brachen sogleich die mittlerweile unzähligen lauten Stimmen seines Gewissens in haltloses entsetztes Gebrüll aus. Nein. Er konnte nicht. Er war gefangen im ach-so-wunderbaren Kosmos, der sich Die Ärzte nannte. Nur kurz war ihm ein Ausflug, ein Freigang in die unbedarfte, künstlerisch-kreative, ihm eigene Natur gegönnt gewesen, mit diesem Solo-Ding. Mit Bingo. Mit Bela B. y Los Helmstedt. Jetzt würde er bald wieder ein Drittel der besten Band der Welt sein. Er wollte es nicht. Erneut durchzuckte seinen (natürlich) längst wieder schmerzenden Kopf ein Gedanke. Konnte er es überhaupt noch sein? War er noch der Schlagzeuger, den andere von ihm erwarteten? War er noch der Konterpart zum blonden, stetig grinsenden Gitarristen? Eine ihm fremde Panik überkam Bela. Er spann sich eine hastige Lüge, eine furchtbar unglaubwürdige Ausrede, warum er nicht zum Bandmeeting erscheinen konnte, zusammen, schrieb sie jedoch wie in Zeitlupe nieder. Als er sie abschickte, zitterte er und fuhr sich mit eiskalten Fingern über sein sachte verschwitztes Gesicht. Er hatte doch tatsächlich Angst vor ihm.
Kapitel 4: Liebe ist eine Kunst
Aus seinem tranceartigen Zustand erwachte Bela erst, als der ICE quietschend zum stehen kam. Eine sarkastische Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm, dass sein Leben sich in letzter Zeit auffallend häufig Bahnhöfe als schicksalhafte Schauplätze aussuchte. Zerstreut verließ er eben jenen und machte sich auf den Weg zu seiner Freundin. In seinen Gedanken ging er bereits durch, wohin er sie heute mitnehmen, womit er sich heute ablenken könnte.
Sollte es ein richtig romantischer Abend werden, oder lieber ausgeflippt, hip, jugendlich? Immerhin war sie jung, 13 Jahre jünger als er um genau zu sein und viel mehr der studentische als der kitschig-prinzesschenhafte Typ. Darüber hatte er sich ziemlich oft das Hirn zermartert, denn sie sollte glücklich sein. Nicht zuletzt, weil das wiederum ihn glücklich machte. Glaubte er.
Ob ihr dieser Gedanke wohl zu altmodisch war?
Seufzend schüttelte er den Kopf und verdrängte sein Unbehagen, in dem er im nächsten Blumenladen einen ganzen Strauß roter Rosen kaufte. Altersunterschied hin oder her.
Wenig später sollte er es allerdings wieder bereuen, als er sich von seinem Mädchen das ganze Abendessen über Neckereien anhören musste, die ihn heute wesentlich mehr trafen, als für gewöhnlich. Es gipfelte, als sie ihm das Ausgehen versagte. Sie hätte zu tun. Und auch alle seine anderen Pläne verneinte sie ihm an diesem Abend. Beachtlich war, dass sie für jeden seiner Vorschläge einen anderen Einwand hatte.
Zum ausgehen war sie zu müde, für eine seiner neuen DVDs hatte sie zu starke Kopfschmerzen (dabei hatte er nur äußerst rücksichtsvoll ausgewählte, nicht zu brutale Titel eingeworfen), für eine Tablette hatte sie zu viel Wein getrunken, zum schlafen gehen war sie zu wach und schlussendlich behauptete sie sogar, zu viel Arbeit am Hals zu haben. Beinahe erschrocken bemerkte Bela, wie spöttisch er sich in seinem Kopf anhörte, bei dem Gedanken, dass sie doch gar nichts mehr zu arbeiten hatte. Die Show war längst Geschichte. Schon lange bezüglich der Quoten und Wirtschaftlichkeit von ‚Pimp my was-auch-immer’ und all den anderen zweifelhaften amerikanischen Reality Shows in den Wind geschlagen. Er sah in ein paar großer, geschockter Mädchenaugen.
Da hatte er wohl laut gedacht...
Schnaubend und ruckartig stand sie auf, riss den Stuhl dabei mit um und knallte kurz darauf die Tür zum Bad. Bela hatte seltsamer Weise kaum das Gefühl, etwas schlechtes getan zu haben. Im Gegenteil. Er hatte ehrlich ausgesprochen, was er dachte und das war an diesem anstrengend langen Tag eine echte Befreiung gewesen. Das Hochgefühl in ihm dauerte einige erfüllende Minuten lang an. Dann drang ihr Schluchzen an sein Ohr. Einen Moment sann er darüber nach, ob sie das nicht vielleicht einfach nur machte, um ihn zu Boden zu bekommen. Hatten ihn nicht schon so viele Leute darauf aufmerksam gemacht, dass er sie viel zu sehr wie ein Diener umgarnte?
Schließlich stand er trotzdem schwer seufzend auf und ging zum Bad.
„Hey... mach auf, bitte... das war keine Absicht, Baby...“, hauchte er in seinem samtigsten, vertrauensvollsten Bass durch das Schlüsselloch. Sie wimmerte nur. Er dachte daran, dass sie mit verlaufenem Mascara fürchterlich aussah.
„Verschwinde! Ich hasse dich! Du kotzt mich an!“
Ob große Liebe oder nicht, diese Worte von Seiten der Kleinen schnitten ihm ins Fleisch. Was war nur auf einmal mit ihr los?
„Jetzt bleib ruhig, du weißt doch, dass...“ – fast kippte Bela ins Bad, als sie die Tür aufschloss und genau so gespielt aufgelöst und Schminke-verschmiert vor ihm stand, wie er es erwartet hatte.
„Ich hab gesagt, du sollst verschwinden!!! Wie konnte ich bloß auf die reinfallen???“
Er ließ sich gegen die Haustür schubsen, konnte gar nicht mehr anders, als genervt reagieren.
„Süße, du übertreibst...!“
„Verpiss dich, alter Sack, hör endlich auf, mich zu belästigen!“, kreischte sie plötzlich, von ihm weggedreht, wollte ihm ihre Tränen nicht zeigen. Sinnlos. Er hatte sie doch längst gesehen.
Frauen, dachte Bela. Aber was sie wollte, sollte sie kriegen und so war er schon wenige Minuten später, vollständig angezogen, aus ihrer Wohnung verschwunden und spürte, wie der Wind der einbrechenden kalten Jahreshälfte ihm durch die Kleidung schnitt.
Fühlen tat er dabei ... Nichts.
Und während er so den Bürgersteig entlang trottete, den Rollkoffer mit losem Griff hinter sich her zerrend, begann er ganz trocken und nüchtern und überhaupt sehr untypisch für ihn selbst, zu überlegen, wohin er sich nun am Besten wenden sollte. Die Nacht war, wie Nena es gesagt hätte, noch sehr jung und Bela hatte keine Lust, die nächsten Stunden ganz allein zu verbringen. Trotzdem ihn das kurz angebundene Streitgespräch nicht weiter schockiert hatte. Irgendeine Stimme tief in ihm, hatte es ja doch kommen sehen. Es war eigentlich wie jedes Mal:
Er fühlte sich allein, suchte aus, verführte, verliebte sich Hals über Kopf, glaubte an Bindung für die Ewigkeit, verwöhnte, umschmeichelte und wurde schließlich abserviert. Der typische Leidensweg schien es für ihn zu sein, eine Endlosschleife, und doch.
Alle bisherigen Trennungen hatten ihn körperlich viel mehr beansprucht. Meistens wurde er sehr krank, verlor erst den Appetit, dann die Selbstkontrolle und immer eine Menge Haare. Binnen weniger Tage verwandelte er sich in einen Einzelgänger, der er so gar nicht sein wollte. Irgendwann heilten die Wunden dann wieder, er kratzte den überflüssigen Grind von der Narbe und mischte sich, wie eine Schlange nach der Häutung, mit einem neuen, viel schöner glänzenden Schuppenpanzer wieder unters Volk, um Mäuse zu Fangen.
Ein bitteres Grinsen trat auf seine vor Eiseskälte schmerzenden Lippen, als er sich im Spiegel des Bahnhofsklos besah, in dem er sich schließlich wiederfand. Zumindest äußerlich, schien Bela sich nur etwas vorgemacht zu haben. Er sah genau so müde und erschöpft aus, wie nach jeder Beziehung.
Grau und Weiß blitzte durch das lichte Fell des abgekämpften Wolfes, der erneut erfolglos versucht hatte, sich eine sichere Höhle für immer zu suchen. Die Haut seiner Wangen war rau vor Bartstoppeln, seine Augen voller Geschichten, aber graugrün, düster, nur noch ein sehr leises Leuchten von Leben.
Schon nach Sekunden hatte er mehr als genug von seinem Spiegelbild und hätte, wäre er nur ausreichend enthusiastisch gewesen, die Kabine fluchtartig verlassen. So schlurfte er eher demotiviert durch die graugefliesten Gänge des Bahnhofes. Dass er nicht in Berlin bleiben wollte, wusste er mittlerweile ziemlich sicher, denn hier hatte er nur Freunde, die Kind und Kegel besaßen, abgesehen vom in letzter Zeit immer müden Rodrigo, dessen Anwesenheit ihn nur noch zusätzlich bedrückt hätte. Nicht diese Band. Nicht jetzt auch noch.
Zu seiner Mutter...?
Bela erschrak sich fast, als sein eigenes, freudloses Auflachen in Folge dieser Idee an den Wänden des Korridors wiederhallte. Diese Frau käme ihm jetzt gerade Recht, die ihm, auch, wie nach jeder Trennung (war es ein Teil des Leidensweges?) vorbetete, sie hätte von vornherein gewusst, dass dieses Mädchen nichts taugte und nichts für ihn und ohnehin viel zu jung war. Und überhaupt.
Als er den Korridor zu den Klos verließ und in den tatsächlichen Bahnhof kam, zog ihm ein kalter Wind entgegen. Fröstelnd schob er die Schultern in Richtung seiner Ohren, musste kurz ein bisschen grinsen. Ob sie den großen Blonden wohl für tauglicher halten würde...?
Innerlich schüttelte Bela den Kopf, hob jenen dann aber äußerlich lieber in Richtung der Anzeigetafel und erkannte erschrocken, dass er vor einer Minute noch einen Zug nach Hamburg zurück bekommen hätte. Fluchend sprintete der die Treppen aufwärts, in der Hoffnung, die Deutsche Bahn möge nur ein einziges Mal zu seinen Gunsten ihr berühmtestes Klischee erfüllen, doch schon am letzten Treppenabsatz vor dem Gleis, sah er, dass der ICE sich langsam in Bewegung setzte. Warum er trotzdem weiter rannte, wusste er nicht. Aber er war eben kein Kopfmensch. Gerade wollte er noch einmal irgend einen Fluch durch die Zähne stoßen, auf Mehdorn, die Bahn, das Wetter, seine Mutter und vor allem auf Sarah, ganz dramatisch und nur, um es endlich loszuwerden...
Doch alles was er zu Stande brachte, war ein unverständliches Nuscheln, als der schwarze wollene Stoff eines Mantels ihm ins Gesicht geriet und er mitten auf der Treppe mit einem anderen zusammen stieß. Beide taumelten, fluchten wieder, eine Hand ergriff seine und rettete ihn davor, sich auf den hässlichen Bahnhofstreppen das Genick zu brechen.
Einen Moment verharrten die beiden Männer, dann sah der eine hinauf, der andere hinab.
„Du?“
„Jan!“
Kapitel 5: Grad eben warn wir noch total entspannt
Bela und Farin hatten nach einem kurzen Wortwechsel nüchtern aber einig beschlossen, dass es ihnen ihre altersbedingten Gebrechen gar nicht erlaubten, bei gegebenen Temperaturen weit unter der Nullgrenze mehr als eineinhalb Stunden auf einem ungemütlichen, wenn auch übertrieben modernen Bahnhofsgleis zu verbringen. So machten sie sich auf die Suche nach einem Imbiss, der ihren Highsociety-Ansprüchen gerecht war. Eine entsprechende Sushibar war zwar schnell eine festgelegte Sache, diese zu finden war für die beiden Urberliner auf dem hochtechnisierten Betonklotz von Hauptbahnhof aber eine wahre Mission Impossible. Sie kamen sich in ihrer Orientierungslosigkeit reichlich blöd vor und gewannen sich gegenseitig ein schiefes Grinsen ab, als sie gleichzeitig einen Fluch ausstießen, weil sie auf ihrer bootlosen Irrfahrt zum dritten Mal die Filiale einer FastFood-Kette kreuzten, deren seltsames Maskottchen (ein Clown in geschmackvollem orange-rot-weiß) ihnen undefinierbare Fleischklopse zwischen Quietschebrötchen für wahre Unsummen anbot.
„Die vermehren sich…“
„Oder es verfolgt uns…“
…
„Wir könnten ja mal rein gehen.“
Bela spürte den entsetzen Blick und verdrehte die Augen, „Warum musst du auch immer so pingelig sein? Die paar Geschmacksverstärker werden dich auch nich umbringen, oller Öko. Mit der Band war ich ständig bei denen.“
Plötzlich war es wieder still um sie herum, der Gang auf dem sie standen schien sich schlagartig zu leeren, sie waren ganz allein. Die Luft schien sich anzuspannen. Angegriffener als von Bela beabsichtigt blickte der Blonde auf.
„Oh mit DER Band also. Na tut mir ja Leid, dass ich nicht so supergeil drauf bin wie ihr!“ Farin schnaubte. Bela seufzte hörbar.
„Jan, das ist kindisch. Hör auf.“ – Jetzt drehte der Größere sich zu ihm um und Bela sah, dass er die Hände in den Jackentaschen zur Faust ballte.
„Was ist kindisch? Dass ich mich aufrege, dass du mir gegenüber diese Horde Pseudo-Musiker vorziehst, die dich Boss nennen und jeden Abend zwei Stunden lang an dir rum grapschen, damit du sie besser bezahlst???“
Das saß. Bela fand keinen Atem für ein höhnisches Lachen.
„Ach? Das stört dich? Sieh an, auf der Bühne bist du was das angeht doch auch gut dabei, oder?“ Sie standen sich gegenüber wie Raubtiere, bereit, jeden Moment der Provokation ein Ende zu machen und Taten folgen zu lassen. Farin zeigte seine Fäuste jetzt außerhalb der Jacke.
„Zu mehr bist du ja auch schon lange nicht mehr zu gebrauchen! Schlagzeuger, das ich nicht lache! Du solltest vielleicht mehr Zeit mit dem Üben als mit dem Vögeln verbringen! Was du mit dieser Tussi und diesen Typen auf der Bühne abziehst ist einfach nur widerlich!“
Das reichte. Bela sah rot. Das Krachen hallte scheinbar im ganzen Bahnhofsgebäude wieder, als er Farin stieß und dieser mit großer Wucht gegen die Wand neben den bizarren Clown-Aufsteller knallte. Sie sahen sich nach einer gefühlten Ewigkeit in die Augen. Blitze zuckten.
„So siehst du das also ja? Widerlich? DU, der mit nem ganzen Rudel Boxenluder rumtingelt und für jede Kamera den dickeirigen Playboy gibt! Ich lach mich TOT!“
Farins Blick wurde stechend, doch noch hielt seine Fassade. Seine langen Finger bohrten sich in Belas Schultern, schlangen sich langsam um seinen Hals, sein Kopf bestimmte, was er sagte: „Besser Boxenluder inner Band als kleine Mädchen im Bett oder?!“
„Halt die Fresse! HALT DEINE BLÖDE FRESSE!“
Erneut ertönte ein Knall, die beiden Männer schlugen auf dem Boden auf und blindlings aufeinander ein, rissen aneinander, stießen fort, traten, rammten den jeweils anderen auf den harten Fliesenboden des Bahnhofs. Ihre Masken waren gefallen, ihre Gesichter wutverzerrt, sie brüllten sich Phrasen entgegen, wie zwei kämpfende Tiere. Sie rangen miteinander, prügelten sich, und ihr einziges Ziel schien zu sein, den anderen zu verletzen. Der ganze Frust der letzten Monate, die Angst vor dem, was kam, der Stress, die Spannungen und die Unzufriedenheit mit allem, was passiert war entlud sich in diesem Streit, ausgelöst durch einen völlig banalen Umstand, einen Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hatte.
Was ihre Gesundheit anging, so konnten beide von Glück sprechen, denn gerade als Bela wieder einmal die Oberhand hatte, auf Farins Brustkorb sitzend, die Knie gegen die Oberarme drückend, eine Hand gefährlich fest auf dem Kehlkopf und zu einem Schlag ausholte, da schaffte es ein völlig Fremder, zu ihnen durchzudringen.
Eine dunkle Hand hielt Belas Faust fest.
„Hey, kann ich euch helfen?“
Beide hielten inne, der Hass in ihren Augen erlosch. Nüchterne, nichts sagende Blicke blieben zurück. Sie schauten hoch, der große, schlaksige Mann sah fragend auf sie hinab. Er trug dieselbe Uniform wie der Clown, der sie bis hierhin gebracht hatte. Wie selbstverständlich standen sie auf. Farin ging einfach los, sagte nichts weiter, Bela sah ihm kurz nach, murrte dann nur:
„Ne Coke und nen Cheeseburger, Meister…“
Erst auf dem Bahnsteig trafen sie sich wieder. Der Zug fuhr gerade ein und am Bahnhof war so wenig los, dass selbst Bela B. Felsenheimer rechtzeitig heran geschlurft kam, um zuzusteigen. Ein eisiges Schweigen hielt sich in der Luft, doch sie setzten sich nach außen hin wieder völlig gelassen einander gegenüber. Diese Masche konnten sie stundenlang abziehen, bis sich die Wut auf beiden Seiten in Luft aufgelöst hatte, ohne, dass sie miteinander sprechen mussten. Allerdings hatte Bela diesmal eher das Gefühl, mit dem Vorhaben, alles so zu machen wie die letzten Jahre, so einiges zu riskieren. Er sah sehr verdutzt von der sich in Bewegung setzenden nächtlichen Landschaft auf, als sein gegenüber ihm eine für seine Begriffe geradezu himmlisch duftende Papiertüte entgegen schob, von der ihn das berühmte goldene M anleuchtete. Kurz sah er hinein. Ein Cheeseburger und ne Coke…
Nach dem Streit war ihm der Appetit vergangen und er hatte den dunkelhäutigen jungen Mann im Clownskostüm mit dem Essen einfach stehen gelassen. – Statt dessen hatte er etwas anderes gesucht und gefunden. Nun schob er Farin auf dieselbe unbeteiligte Art eine Plastikbox voll Maki Sushi entgegen. Beide hatten nach der Auseinandersetzung tatsächlich nur an den anderen gedacht…
Unter beschämtem aber friedlichem Schweigen begannen die beiden nun doch recht hungrigen Männer, wie zwei kleine Jungen nach einer Prügelei, oder ein Ehepaar nach einem ausgedehnten Zoff, vor sich hin zu kauen.
Tatsächlich schien Liebe an dieser einen Stelle durch den Magen zu gehen, oder es lag tatsächlich einfach an der simplen gegenseitigen Geste, völlig egal, wie Bela fand. Schlussendlich verließen sie, noch immer sehr schweigsam, aber völlig ruhig und entspannt, und diesmal nicht nur nach außen hin, den Wagon. Er stellte im Stillen fest, dass er Züge langsam aber sicher satt hatte und als könnte er seine Gedanken lesen, fuhr der Blonde ihn ganz ohne zu fragen mit dem Auto nach Hause, denn er war nicht wie Bela mit dem Taxi zum Bahnhof gekommen. Überhaupt benahm er sich äußerst rücksichtsvoll, half, Belas Koffer in den Kofferraum und ihn selbs auf dem Beifahrersitz zu platzieren (ganz ohne dass dieser sich wie ein Pflegefall fühlte) und schaltete sogar schnell den CD-Player aus, bevor John Lennon dem Älteren „HELP!“ ins Ohr brüllen konnte; Alles schien sich zu beruhigen. Irgendetwas in Bela, vermutlich einmal mehr sein mehr oder minder allwissendes Bauchgefühl, sagte diesem allerdings, dass der Tag noch nicht zu Ende war. Erst skeptisch, seinem sechsten Sinn aber dann doch lieber einfach blind vertrauend, wartete Bela ab, bis der Kombi vor seinem Haus in einem Randgebiet von Hamburg hielt… Sollte er…?
„Also dann…“
„Jan!!“
Er spürte, wie rot seine Ohren wurden, als ihn sein Chauffeur mit hochgezogenen Brauen ansah und betete, dass seine schon zu lang gewachsenen Haare das nötigste verdeckten.
„Ähem… ich sitze hier… also du musst nicht schreien.“, schluckte er? „Was ist?“
„Komm mit hoch.“, purzelten so etwas wie ein Satz aus Belas Mund.
Farin zuckte zusammen, als er wagemutig die Hand auf sein Knie legte, blickte weiterhin zweifelnd drein, nicht ahnend, dass der Kleinere genau so wenig Ahnung hatte, was diese Aktion hier bringen sollte, wie er selbst.
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